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Momente des Glücks: Ex-Topmanager von RTL schreibt Roman über das Loslassen

Stephan Schäfer stand an der Spitze von Gruner + Jahr und RTL. In seinem Debütroman geht es um nichts weniger als den Sinn des Lebens.

Von Karin Großmann
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Stephan Schäfer war bis Mitte 2022 Co-CEO von RTL Deutschland.
Stephan Schäfer war bis Mitte 2022 Co-CEO von RTL Deutschland. © Ullstein Verlag

Sie haben die Arbeit stets im Gepäck, schreiben noch nach Mitternacht Mails und sind immer erreichbar. Sie planen auch das Familienleben exakt. Von Dienstreisen schicken sie ihren Kindern Karten, auf Vorrat beschriftet. Es kommen viele Karten zusammen in einem Jahr. Sicher gibt es die Manager mit der Sechzig-Stunden-Woche immer noch in irgendeiner Vorstandsetage. „Ich war einer dieser Optimierer geworden, die Arbeit, Anerkennung und Geldverdienen in den Mittelpunkt ihres Lebens gestellt hatten“, sagt der Mann, der nun in einem Bauernhof Kartoffeln sortiert. Seit Langem sah er sich nur noch getrieben von den eigenen Ansprüchen und den Erwartungen anderer. Als sei das Dasein ein nicht enden wollender Aufgabenzettel zum Abhaken. Als sei er irgendwann falsch abgebogen.

Der Mann ist der Icherzähler in „25 letzte Sommer“. Es ist das erste Buch von Stephan Schäfer. Er kennt diese Manager-Typen. Der 49-Jährige war Chefredakteur von Zeitschriften wie Brigitte, Schöner Wohnen, Essen und Trinken, erfand Magazine wie Guido und Barbara und stieg 2021 zum Chef des Hamburger Verlages Gruner + Jahr auf. In seiner Amtszeit wurde das Pressehaus unter dem Dach von Bertelsmann mit RTL Deutschland fusioniert. Bis Mitte 2022 stand Schäfer dort an der Spitze. Von einem Tag zum anderen verschwand er aus dem Medienbetrieb. Vielleicht hatte er einen wie Karl getroffen.

Gespräche bei Pellkartoffeln

Karl ist ein Glücksfall für den namenlos bleibenden Mann der Erzählung. Beide begegnen sich zufällig an einem See. Der Mann hat in der Nähe ein Wochenendhaus, Karl einen Hof. Nackt und nass stehen sie am Ufer und könnten verschiedener nicht sein. Hier der Unternehmer, der weder Zeit noch Interesse für andere aufbringt. Dort der offene, herzliche, zugewandte Kartoffelbauer, der sofort sein Handtuch zum Abtrocknen anbietet und den Fremden zum Frühstück einlädt. Damit beginnt eine Wochenendfreundschaft, die das Zeug zur Fortsetzung hat.

Es gibt lange Gespräche bei Pellkartoffeln und Kräuterquark auf rot-weiß karierter Tischdecke. Karls Frau packt gerade den Koffer für Island. Sie habe auf die Reise gespart und dabei schätzen gelernt, „wie kostbar Wünsche sind, die man sich nicht sofort erfüllen kann“. Als der Gast nach seinem größten Traum gefragt wird, schweigt er eine Weile und muss sich eingestehen: „Ich hatte mir das Träumen anscheinend abgewöhnt.“ In einem auf Effizienz getrimmten Alltag ist dafür kein Platz.

Stephan Schäfer: 25 letzte Sommer. Ullstein, 129 Seiten, 22 Euro.
Stephan Schäfer: 25 letzte Sommer. Ullstein, 129 Seiten, 22 Euro. © Ullstein Verlag

Es ist nicht das Einzige, was der Manager an diesem Wochenende begreift. In den Gesprächen mit Karl entstehen Fragen, die er sich bislang kaum gestellt hat: Warum verbringt man mehr Zeit mit Dingen als mit den Menschen, die einem wichtig sind? Warum genießt man nicht den glücklichen Augenblick, sondern sorgt sich um die Zukunft? Warum spielen bei einer Entscheidung Status und Sicherheit eine größere Rolle als Glück und Lebensfreude? Warum beginnt man oft zu spät mit dem, was richtiger wäre? Der Autor gibt Denkanstöße, die über das Buch hinausgehen. Stephan Schäfer stellt Gewissheiten infrage. Er verhandelt nicht weniger als den Sinn des Lebens. Wenn es gut geht, bleiben seinem Icherzähler noch 25 letzte Sommer. So Karls Prophezeiung.

Gemeinsames Schweigen gehört dazu

Die beiden Männer unterhalten sich über Kindheit, Eltern, Beruf. Beschrieben wird ein vorsichtiger Balanceakt zwischen Nähe und Distanz, Neugier und Anteilnahme. „Das Beste ist immer noch der andere“, sagt Karl. Er zeigt dem Gast Hof, Wald und Feld, fährt mit ihm Traktor, füttert die Katze, ermutigt die Enkelin. Alles in schöner Selbstverständlichkeit. Gemeinsames Schweigen gehört dazu und sogar ein Mittagsschlaf. Für den Manager bisher undenkbar. Doch hier lernt er im Nu, was sonst viele Therapiestunden kostet: das Loslassen. Kein Widerhaken? Das wäre dann doch zu schön.

Nach einem Schwächeanfall erzählt Karl von seiner Autoimmunerkrankung, die unheilbar fortschreitet. Nach der Diagnose habe ihm der Arzt zwei Wege genannt, damit umzugehen: entweder in Selbstmitleid zu versinken oder „Säckchen voller Glücksmomente“ zu sammeln. Gelassen sieht Karl dem Ende seines Lebens entgegen – während der Manager den Anfang eines anderen Lebens bedenkt. Erst mal hilft er beim Kartoffelsortieren.