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Gerhard Richter schuf mit den Farbresten seiner großen Gemälde kleine Schätze

Zufall und Ordnung: Das Dresdner Albertinum zeigt erstmals von Gerhard Richter übermalte Fotografien im Postkartenformat.

Von Birgit Grimm
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Hier wurde der Maler in seinem Atelier fotografiert und versteckt sein Gesicht hinter den Farbresten eines Arbeitstages: Mit „4.12.06, 2006“ hat Richter diese Übermalung bezeichnet. Öl auf Farbfotografie, Leihgabe aus Privatbesitz.
Hier wurde der Maler in seinem Atelier fotografiert und versteckt sein Gesicht hinter den Farbresten eines Arbeitstages: Mit „4.12.06, 2006“ hat Richter diese Übermalung bezeichnet. Öl auf Farbfotografie, Leihgabe aus Privatbesitz. © © Gerhard Richter 2023 (26082023)

Wie Gerhard Richter seit 1986 mit seinen privaten Fotos umgeht, ist absolut nachhaltig. Aber Sparsamkeit wird nicht der Grund dafür gewesen sein, dass er Farbreste verwendete, um sie zu übermalen. Wenn er am Ende eines langen Arbeitstages Fotos aus den Schubfächern im Atelier hervorholte und sie durch die noch feuchten Farbreste auf den Rakeln zog, schuf er abstrakte Malerei auf figurativen Fotos.

Diese Bilder sind nur zehn mal 15 Zentimeter groß. Bis 2017, als er erklärte, nun mit der Malerei aufhören zu wollen, hat er schätzungsweise 2.300 solcher Fotoübermalungen geschaffen. Wie viele er vernichtete, ist nicht bekannt, aber auch nicht, wie viele tatsächlich existieren und wo sie sich befinden. Richter hat früher manches übermalte Foto als Ansichtskarte verschickt – ohne es ihn einen schützenden Umschlag zu legen. Für Sammler sind diese Postkarten längst Pretiosen. Aber die Kunstwissenschaft hat sie bisher kaum berücksichtigt.

"Farbe kann man anfassen"

Das Dresdner Gerhard Richter Archiv hat nun erstmals 72 dieser übermalten Fotografien ausgestellt. Die Hälfte hat Richter, der bei all seinen großen Ausstellungen immer auch mit die Hängung plant, für die Schau selbst ausgewählt. Sie stammen aus der von ihm gegründeten Kunststiftung. Die anderen 36 sind Leihgaben aus privaten Sammlungen. Das früheste Bild in der Schau ist vom 17. November 1999. Darauf zu erkennen sind seine Frau Sabine und sein Sohn Moritz. Das jüngste ist ein sommerliches Motiv von 2017.Was bei Richter nach Zufall aussieht, hat immer seine Ordnung. Es ist ein gekonntes, ein gut kalkuliertes Spiel. Was nach willkürlichem Abstreifen von privat geknipsten Fotos auf Farbe aussieht, hat ein Konzept. Richter sagte 1991 darüber: „Die Fotografie hat fast keine Realität, ist fast nur Bild. Und die Malerei hat immer Realität, die Farbe kann man anfassen, sie hat Präsenz; sie ergibt aber immer ein Bild – egal wie gut oder schlecht. Theorie, die nichts bringt. Ich habe kleine Fotos gemacht, die ich mit Farbe beschmierte. Da ist etwas von dieser Problematik zusammengekommen, und das ist ganz gut, besser als das, was ich darüber sagen könnte.“

Urlaub in den Bergen? Dieses Bild kam aus der Gerhard Richter Kunststiftung in die Ausstellung im Albertinum: „29. April 2015, 2015“ Öl auf Farbfotografie.
Urlaub in den Bergen? Dieses Bild kam aus der Gerhard Richter Kunststiftung in die Ausstellung im Albertinum: „29. April 2015, 2015“ Öl auf Farbfotografie. © © Gerhard Richter 2023 (26082023); Foto: Simon Vogel, Köln

Neben der monatelangen Arbeit an einem Gemälde ist das Tauchen der Fotos in die Restfarben ein spontaner Akt, der weniger Kraft als das Rakeln, aber mindestens ebenso viel, wenn nicht sogar mehr Fingerspitzengefühl erfordert. Im Original sieht man sehr viel besser als in jeder Reproduktion, ob Richter das Foto kraftvoll oder eher sanft in die Rakelreste gelegt hat, ob er es quer oder längs durch die Farbe gezogen hat. War noch viel Farbe vorhanden, ist der Auftrag pastos bis reliefartig. Er habe nicht die Farbe aufgetragen, sondern die Fotos durch die Farbe auf dem Rakel gezogen, erklärt Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Über einer unscharf fotografierten Landschaft – „22. Januar 2015“ – liegen messerscharfe, zauberhafte Farbtupfer, als würde ein Vogelschwarm starten oder als würden die zarten Blätter eines Baumes vom Wind bewegt.

Dresden, deutlich gebräunt: Richter knipste das Foto sicher nicht am 8. Juni 2016, wie der Bildtitel verheißt. Öl auf Farbfotografie, 16,9 x 12,7 cm, Leihgabe aus Privatbesitz
Dresden, deutlich gebräunt: Richter knipste das Foto sicher nicht am 8. Juni 2016, wie der Bildtitel verheißt. Öl auf Farbfotografie, 16,9 x 12,7 cm, Leihgabe aus Privatbesitz © © Gerhard Richter 2023 (26082023)

Keine Titel, aber ein Datum

Die übermalten Fotos haben keine Titel, aber jedes hat ein Datum. „Das ist weder das Aufnahmedatum des Fotos noch das Datum der Übermalung“, erklärt Dietmar Elger, Leiter des Gerhard Richter Archivs und Kurator der Ausstellung. Aber was ist es dann? „Vermutlich das Datum, an dem Richter diese Arbeit für gültig erklärt hat“, meint Elger. Von den übermalten Fotos gibt es bisher kein Verzeichnis. Das Gerhard Richter Archiv, das am Werkverzeichnis der Gemälde und als nächstes auch an dem der Aquarelle von Gerhard Richter arbeitet, greift jeden Hinweis dankbar auf. Man könnte anhand des Datums spekulieren, von welchem großformatigen Rakelbild Farbe übrig blieb. Aber vielleicht liefert ja das knallige Rot vor der Berglandschaft, das Braun vor der Dresdner Münzgasse, das Gelb und das Blau über dem rosa Kleidchen seiner Tochter Ella den zuverlässigeren Hinweis als das Datum? Zum Beispiel sind die Übermalungen der Fotos aus den Jahren 2016 und 2017 so farbintensiv wie auch Richters Gemälde jener Jahre. „Aber ihn interessiert das überhaupt nicht“, weiß Marion Ackermann.

Fakt ist: Ohne die großformatigen, abstrakten Gemälde und ohne die Arbeit mit den Rakeln, ohne die Farbreste, würde es die übermalten Fotos nicht geben. Sie sind nur Beiwerk in Richters Schaffen. Aber was heißt hier nur? Der in Dresden 1932 geborene Gerhard Richter wäre nicht der international gefeierte Malerstar, dessen Werke auf dem Kunstmarkt Phantasiepreise erzielen, wenn er nicht kalkuliert arbeiten, sich und seine Kunst nicht immer wieder hinterfragen, seinem Werk nicht ständig einen neuen, überraschenden Aspekt hinzufügen würde. Abstrakt und figurativ, Fotorealismus, Streifenbilder, Glasskulpturen – sein ganzes Arbeitsleben ist Veränderung.

  • „Gerhard Richter. Übermalte Fotografien“ bis 19. November im Dresdner Albertinum. Geöffnet Di – So 10 – 18 Uhr.
  • Der Katalog erschien im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König und kostet 38 Euro.