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"Das Gesamtkonzept fehlt": Wie barrierefrei ist Dresden wirklich?

Barrierefreiheit ist immer wieder ein Thema. Drei Betroffene sprechen über ihre Erfahrungen. Wie barrierefrei ist Dresden wirklich und wo versagt die Stadt?

Von Elisa Schulz
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"Barrierefreiheit kann einfacher funktionieren", sagt Thomas Naumann, Fachplaner für Barrierefreies Bauen in Dresden.
"Barrierefreiheit kann einfacher funktionieren", sagt Thomas Naumann, Fachplaner für Barrierefreies Bauen in Dresden. © Christian Juppe

Dresden. Das kleine "Ping" des Computers kündigt einen neuen Teilnehmer im virtuellen Raum an. Insgesamt fünfmal war dieses Geräusch bereits zu hören. Als Betrachter scheinen die fünf Personen, die da freundlich in die Kamera schauen, wie eine Gruppe Freunde, die sich auf einen Plausch treffen. Allerdings virtuell und nicht in einem schönen kleinen Eckcafé oder einem ähnlichen Treffpunkt. In den kleinen Videokästen auf dem Bildschirm scheint an den Fünfen nichts ungewöhnlich zu sein. Die Rollstühle, in dem vier von ihnen sitzen, sind nicht zu sehen.

"Es ist schwer, Barrierefreiheit zu definieren"

Zwar ist das Treffen im virtuellen Raum wie ein Treffen von Freunden. Sie sind aber durch ihre Behinderung zusammengekommen. Und an diesem Dienstagabend gibt es ein festgelegtes Gesprächsthema: Wie barrierefrei ist die Landeshauptstadt?

"Es ist schwer, Barrierefreiheit zu definieren", sagt Kathi Stephan. Sie sitzt im Rollstuhl. Die Hand, die ab und zu in das Bild kommt, ist von ihrer Assistentin. "Jeder hat ein eigenes Gefühl, was das ist", sagt sie. Die Leute in der Gruppe diskutieren kurz darüber, wie die perfekte barrierefreie Toilette aussieht. Sie selbst sei eher klein und hätte andere Ansprüche als große Menschen. Die Toilettengröße ist ihr somit nicht so wichtig. Dafür hat sie andere Herausforderungen.

"Etwa jeder zehnte Bürger der Landeshauptstadt Dresden lebt mit einer Behinderung", heißt es auf der Internetseite der Stadt. Hochgerechnet wären das also 57.000 Menschen. Das größte Problem für alle Fünf sind die Wege von A nach B. "Manche Ecken sind gut, die Nächste ist es schon wieder nicht mehr", sagt Thomas Naumann. Er ist Fachplaner für Barrierefreies Bauen.

Seiner Meinung nach bemühen sich einzelne Einrichtungen um Barrierefreiheit. Das Schloss, Hygienemuseum und Semperoper stellen sich immer mehr auf Gäste mit einer Behinderung ein. Für Naumann, der im Rollstuhl unterwegs ist, sind aber nicht die Einrichtungen das Problem. "Ich komme oft nicht hin", sagt der 45-Jährige, "manchmal fahre ich einfach los und schaue, wie weit ich komme."

"Ich schaue oft vorher bei Google Maps"

Kathi Stephan sieht das ähnlich: "Oft habe ich schon bei der Straßenbahn keine Lust mehr." Manchmal sagt sie Treffen mit Freunden ab, weil es regnet. "Dann rutsche ich nur mit meinem Rollstuhl an der Einstiegskante der Straßenbahn ab", sagt die 47-Jährige. "Das ist peinlich."

"Das Stadtzentrum ist weitgehend barrierefrei", antwortet die Stadt auf eine Anfrage zur Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung. Die Realität sieht anders aus. Stefan Wicklein ist Vorstandsmitglied des Verbands der Körperbehinderten und einer der Assistenten von Kathi Stephan. Er plant schon lange im Voraus, wenn es an unbekannte Orte in Dresden gehen soll. "Dann steht online, dass die Haltestelle, zum Beispiel am Hauptbahnhof, barrierefrei ist. Wenn man dann aber ankommt, ist sie es eindeutig nicht", sagt er. Das gelte aber nicht nur für Dresden. "Ich schaue oft vorher bei Google Maps. Steht dann da 'barrierefrei' habe ich es auch schon ein paar Mal erlebt, dass dort trotzdem Stufen am Eingang waren."

Die Stadt räumt das ein. "Dennoch ist und bleibt bei der Vielzahl an Wegen und Haltestellen der Handlungsbedarf sehr groß", heißt es auf Anfrage, "da unzureichend Mittel und Ressourcen für die Umgestaltung von Fußverkehrsanlagen zur Verfügung stehen."

"Hier und da wird auch schon was gemacht", sagt Stefan Wicklein, "aber das Gesamtkonzept fehlt." Dem stimmt auch Thomas Naumann zu. "Oft wird was gemacht und dann werden wir erst im Nachhinein gefragt, ob das so gut ist", sagt er. Und dann fällt eben auf, dass die neuen Steine auf dem Gehweg schwer von Rollstühlen zu befahren sind. "Als Läufer merkt man vieles gar nicht", sagt er. "Oder es wird sich gezielt hinter dem Denkmalschutz versteckt", ergänzt Wicklein.

"Vorher herrscht da eine Leck-mich-am-Arsch-Haltung"

Plötzlich landen die beiden Männer in einem Schlagabtausch, sind sich aber einig. "Die Stadt bemüht sich schon." Thomas Naumann versucht den Frust ein wenig von der Stadt wegzuleiten, "eher die Gesellschaft ist das Problem". Wicklein stimmt ihm zu "da fehlt dann irgendwie die Selbsterfahrung und der Aha-Effekt". Beide Männer sind sich einig, dass es erst zu dem Wunsch nach mehr Barrierefreiheit kommt, wenn jemand selbst betroffen ist. "Vorher herrscht da eine Leck-mich-am-Arsch-Haltung", sagt Naumann, "da muss erst jemand in der Planung sitzen, der selbst behindert ist. Komischerweise gehts dann ganz schnell."

Dabei geht es nicht nur um Menschen, die eine Behinderung haben. "Barrierefreiheit wird auch von anderen genutzt", sagt Kathi Stephan. Menschen mit Rollator oder Kinderwagen profitieren genauso davon, erklärt sie.

"Die Anforderungen an die Barrierefreiheit haben sich in den letzten Jahren erhöht", sagt die Landeshauptstadt auf Anfrage. "So gelten nach heutigen Maßstäben und Standards Sanierungen von vor 20 Jahren mitunter nicht mehr als barrierefrei".

Die Vorgaben ergeben für Thomas Naumann oft keinen Sinn. "Barrierefreiheit kann durchaus einfacher funktionieren", sagt der 45-Jährige, "Andere Länder zeigen es. Man muss flexibel sein und nicht immer alle Vorgaben so ernst nehmen."

Alle drei sind sich trotzdem einig, dass die Stadt in den letzten Jahren für Rollstuhlfahrer zugänglicher geworden ist.

Nach der Frage, wo die Lieblingsorte der fünf Teilnehmer in Dresden sind, antwortet Thomas Naumann am schnellsten: "meine eigene Couch". Die anderen lachen. "Zuhause ist der barrierefreieste Ort, den ich kenne", sagt Kathi Stephan.