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"Die Pandemie der seelischen Krisen hat erst begonnen"

Die Dresdner Studentin Tabea Schwirblat will Menschen helfen, psychische Erkrankungen von Verwandten und Freunden zu erkennen - und zu handeln.

Von Henry Berndt
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Tabea Schwirblat will Menschen dazu befähigen, im Ernstfall seelische Erste Hilfe zu leisten.
Tabea Schwirblat will Menschen dazu befähigen, im Ernstfall seelische Erste Hilfe zu leisten. © privat

Dresden. Stabile Seitenlage und Mund-zu-Mund-Beatmung - davon hat jeder zumindest schon mal gehört. Viele wissen sogar, wie sie konkret Erste Hilfe leisten, wenn jemand in Gefahr gerät. Wie aber sollten sie sich verhalten, wenn es nicht um Brüche oder Atemnot geht, sondern um ein Problem, das nicht auf den ersten Blick sichtbar ist?

Viele Menschen fühlen sich überfordert, wenn sie mit seelischen Krisen anderer konfrontiert werden, ihnen vielleicht sogar versteckt oder offen suizidale Absichten offenbart werden. Was sollen sie tun? Während die einen in Hilfslosigkeit erstarren, schwingen sich die anderen zu Laien-Psychologen auf, die meinen, die besten Tipps geben zu können. Beides ist gefährlich, sagt Tabea Schwirblat.

Die gebürtige Rostockerin lebt seit 20 Jahren in Dresden. Ende des Jahres wird sie hier ihr Medizinstudium beenden. Danach strebt sie eine Facharztausbildung zur Psychiaterin an. Vor elf Jahren litt die 25-Jährige selbst an einer psychischen Erkrankung und begleitete später Angehörige und Freunde in deren Krisen. "Ich kenne alle Perspektiven und weiß, wie sich das anfühlt." In den Lehrplänen spielte das Thema dagegen in den vergangenen zwölf Semestern kaum eine Rolle.

"Dabei werden wir alle mal in diese Situation kommen", sagt Tabea Schwirblat. Jeder Zweite durchleide sogar selbst in seinem Leben eine psychische Erkrankung. Zu oft werde das jedoch gar nicht diagnostiziert und entsprechend auch nicht behandelt. Glücklich kann sich derjenige schätzen, dessen Freunde und Verwandten die richtigen Worte finden und die richtigen Ansprechpartner für professionelle Hilfe kennen.

"Wir wollen Ersthelfer ausbilden und keine Psychologen"

Genau an diesem Punkt wollte Tabea Schwirblat ansetzen. Nachdem sie sich zunächst ehrenamtlich in einem Dresdner Verein für Aufklärung und Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen eingesetzte, hat sie inzwischen ihr eigenes Erste-Hilfe-Konzept für seelische Krisen entwickelt und als Start-up aufgebaut. In Australien werde dieser Ansatz schon länger verfolgt, während sich die Hilfe hierzulande meist noch auf die Betroffenen selbst fokussiert.

Wie bei der stabilen Seitenlage könne man auch bei der seelischen Ersten Hilfe viel falsch machen. "Einige glauben, sie müssten ganz viel reden, dabei hilft gemeinsames Schweigen den Betroffenen oft mehr." Ratschläge wie "Treib doch mal mehr Sport!" oder gar "Reiß dich doch mal zusammen!" seien kaum hilfreich, genauso wenig wie Floskeln à la "Das wird schon wieder". "Besser ist es, nachzufragen: Was genau macht dir Sorgen? Man sollte sich klarmachen, dass der andere auch nur ein Mensch ist, und man mit ihm umgehen sollte, wie mit allen anderen auch."

Wie bei der bekannten Ersten Hilfe gebe es Regeln und Zweifelsfälle, zum Beispiel beim Eigenschutz. "Wo ziehe ich meine Grenze? Belastet mich die Konfrontation zu stark? Was kann ich mir zumuten?"

Seit Januar bietet Tabea Schwirblat online Kurse und Workshops an - nicht als Frontalunterricht, sondern im interaktiven Zusammenspiel, inklusive Diskussionen, Umfragen, Rollenspielen und Kleingruppenarbeit.

"Unsere Angebote sollen dazu befähigen, selbstbewusster, informierter und empathischer mit seelisch belasteten Personen umzugehen", sagt sie. "Wir wollen Ersthelfer ausbilden und keine Psychologen."

Selbst unter Ärzten noch Vorurteile

Angesprochen werden sollen alle Privatpersonen, konkret aber auch Sozialarbeiter, Lehrer oder Mitarbeiter in Bürgerbüros. Viele Betriebe merkten mittlerweile, dass die seelische Gesundheit ein wichtiges Thema ist - nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie.

Selbst unter den Ärzten gebe es noch immer Vorurteile und einen "riesengroßen Aufklärungsbedarf", sagt die Studentin. Ihre eigene medizinische Fakultät in Dresden nehme das Konzept bereits in Anspruch.

Die Idee kommt an und scheint eine Lücke zu füllen. Inzwischen besteht das Team aus sechs Mitarbeitern, darunter eine Psychologin und Sozialarbeiterinnen. Ihr langfristiges Ziel ist es, dass seelische Erste-Hilfe-Kurse in Zukunft fester Bestandteil von Aus- oder Weiterbildungen sind und von den Krankenkassen anerkannt werden.

Depression sei längst eine Volkskrankheit, die zu Arbeitsunfähigkeiten und Frühberentungen führe, betont Tabea Schwirblat. "Neben den persönlichen Schicksalen hat das auch große Auswirkungen auf das Wirtschafts- und Gesundheitssystem. Und die 'zweite Pandemie' der seelischen Krisen hat gerade erst begonnen."

Die Teilnahme an einem sechsstündigen Workshop kostet 49 Euro, ermäßigt 29 Euro. Der nächste öffentliche Workshop startet am 2. Oktober. Auch ein Kurs speziell zum Thema "Kommunikation bei Partnerschaftsgewalt" wird angeboten.

Wovon sie träumt? Von einer Gesellschaft, in der sich niemand für die eigenen seelischen Probleme schämen, in der Menschen mit psychischen Erkrankungen rechtzeitig erkannt und behandelt werden und in der auch Laien auf gefährliche Symptome reagieren können.

"Ich habe verstanden, dass die Stigmatisierung, unter der ich selbst jahrelang gelitten habe, vor allem durch Unsicherheit und mangelndes Wissen zustande kommt", sagt Tabea Schwirblat. "Aber das kann geändert werden. Das muss geändert werden."

Alle Informationen zum Projekt "Seelische Erste Hilfe leisten" gibt es hier.