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Dresdner Kreation: Wie ein Flügel zu seinem zweiten Leben kam

Der Technische Direktor der Dresdner Staatsoperette, Mario Radicke, hat goldene Hände und baut in seiner Freizeit Bühnenbilder - auch klangvolle Extrawünsche fürs Boulevardtheater.

Von Nadja Laske
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Mario Radicke hat schon viele Dekorationen und Bühnenbilder gebaut - sein Flügel-Projekt war für ihn einmalig.
Mario Radicke hat schon viele Dekorationen und Bühnenbilder gebaut - sein Flügel-Projekt war für ihn einmalig. © Christian Juppe

Dresden. Für Männerabende hat Mario Radicke nicht allzu viel Zeit. Sein Job ist fordernd, die Familie braucht ihn und nebenbei sorgt er dafür, dass andere Männer schöne Abende haben. Seit zwölf Jahren steckt der Direktor für Technik und Ausstattung an der Staatsoperette Dresden viele Stunden seiner Freizeit in ein Faible, das so manchem als Tagwerk völlig genügen würde.

Der 62-Jährige entwirft, konzipiert und baut für andere Theater Dekorationen oder ganze Bühnenbilder. Die Herkuleskeule, die Landesbühnen Sachsen, das Europäische Zentrum der Künste Hellerau, die Palucca-Hochschule oder auch das Brandenburger Theater haben ihre Inszenierungen schon von ihm ausstatten lassen.

Die Freude am Tüfteln, Gestalten, Schrauben, Sägen, Streichen, Kleben hat den Hobbykellerrahmen längst verlassen und breitet sich in einer großen Halle aus. Dort hat Mario Radicke seine Werkstatt eingerichtet, mit aller nötigen Technik, die auch raumgreifende, komplizierte Aufträge ermöglicht. Schwere vor allem.

Aufschluss über die Geschichte des Flügels aus dem Klavierbaubetrieb Ernst Kaps.
Aufschluss über die Geschichte des Flügels aus dem Klavierbaubetrieb Ernst Kaps. © Christian Juppe

Ein Flügel in Einzelteilen

Mitten im Raum steht ein Flügel. Das Instrument ist klar zu erkennen, wenn auch so Manches an ihm befremdlich erscheint. Zuallererst die Farbe: Kein schwarzer Lack, mattes Anthrazit statt Hochglanz. Auch die nähere Betrachtung lässt stutzen. Irgendetwas fehlt. Mario Radicke greift nach schwarz-weißen Tastenblöcken, die auf einer Werkbank liegen. "Die Tastatur haben wir entfernt und werden einen Teil davon wieder verwenden, als Ergänzung eines integrierten Keyboards", sagt er.

Rasch wird klar: Das ist nicht das Einzige, was fehlt. Mit schwerem Gerät haben Radicke und sein Team das ganze Innenleben mit gespannten Saiten und schweren Metallteilen aus dem Korpus entfernt. Nie mehr wird der Flügel aus sich heraus klingen. Doch ihm steht ein neues Leben bevor, und mit dieser Aussicht kann Mario Radicke gut leben. Schließlich hört es sich fürs Erste einigermaßen barbarisch an, was er dem altehrwürdigen Instrument angetan hat.

Als der Elektriker, der vor 45 Jahren als Lehrling an die Operette kam und zunächst Beleuchter und Beleuchtungsmeister wurde, den Auftrag bekam, die Kulisse für das aktuelle Stück "Männerabend" am Boulevardtheater zu bauen, war damit ein sehr spezieller Wunsch verbunden. "Das Theater hat keinen eigenen Flügel und lieh sich immer einen aus, wenn es nötig war", erzählt Radicke. Für die Inszenierung war das zu kompliziert, umständlich und teuer, und doch sollten die vier Kumpels, die im Stück den Abend mit viel Swing zusammen verbringen, nicht darauf verzichten. Ein Theaterflügel lässt sich vielleicht nicht spielen, aber bespielen.

Flügel verliert seinen Klang, nicht aber seine Historie

Bei einem Klavierbauer in Pulsnitz fand sich ein Flügel, in den der Fachmann zunächst Hoffnung gesetzt hatte. Aber er musste einsehen, dass sich das Instrument nicht restaurieren lässt. Zu viel daran war bereits kaputt, und so überließ er es dem Theater. Auf diese Weise kam der Flügel in Mario Radickes Werkstatt. Dort verlor er zwar alles, was Klang erzeugt, doch seine Historie, die sollte ihm bleiben.

Mit großer Begeisterung erforschte Mario Radicke nicht nur den technischen Aufbau, sondern auch jede Notiz, die der Instrumentenbauer von einst im Baustoff hinterlassen hat. Von daher weiß er, dass der Flügel im Jahr 1922 von der Ernst Kaps Klavierfabrik AG in Dresden gebaut wurde, ein 1858 gegründetes Unternehmen, das zum Hoflieferanten des Königreichs Sachsen ernannt worden war.

"Der Flügel stand in der Oberschule Elstra bei Pulsnitz", weiß Radicke. Nicht nur das Inventursiegel, sondern auch einen Gruß früherer Pubertiere hatte er entdeckt: "Mit Kreide haben sehr wahrscheinlich Schüler den Bandnamen AC/DC auf die Unterseite geschrieben." Keiner konnte es sehen, doch für stille Genugtuung muss die heimliche Botschaft allemal gesorgt haben.

Auf diesem Holzstück ist mit Bleistift das Jahr 1922 vermerkt - von da stammt der Flügel.
Auf diesem Holzstück ist mit Bleistift das Jahr 1922 vermerkt - von da stammt der Flügel. © Christian Juppe

"Damit war ich an meinem beruflichen Ziel angekommen"

Seine eigene Handschrift hat Mario Radicke innerhalb von viereinhalb Jahrzehnten an der Operette viel deutlicher hinterlassen. Nach seinem Meister im Fach Beleuchtung absolvierte er auch die Bühnenmeisterausbildung. Unterdessen bekam er das Angebot, die Leitung über alle technischen und ausstatterischen Belange am Haus zu verantworten. Er nahm an und sagt heute: "Damit war ich an meinem beruflichen Ziel angekommen." Was nicht bedeutet, dass es damit keine weiteren besonderen Herausforderungen mehr gegeben hätte.

Schließlich lief damals noch der Theaterbetrieb am alten Haus in Leuben, das früher oder später ersetzt werden musste. Für Mario Radicke bedeutete das den Beginn einer jahrelangen Planungsarbeit. Wenigstens ein Dutzend Varianten waren im Gespräch, und immer wieder neu mussten Konzepte erarbeitet und abgewogen werden: Was braucht ein modernes Theater - wie viele Bühnen und wie groß, wie viele Plätze, welche Technik, Werkstätten, Garderoben, Probenräume und all das zu welchem Preis?

Die Entscheidung für Operette und TJG im Kraftwerk Mitte fiel im Jahr 2009, Grundsteinlegung 2014, Eröffnung 2016 - Jahre, die Mario Radicke viel abverlangt haben und die er als Lebensaufgabe bezeichnet. Doch damit war es nicht genug. Es folgte ein Millionen-Wasserschaden und erzwungene Spielpause. Dann Corona und erzwungene Spielpause. Schwere Zeiten. Schlussendlich ist er angekommen, wo er hinwollte: "Ich habe erreicht, was ich vorhatte und werde nun aufhören", sagt er.

Mit der aktuellen Spielzeit wird seine Tätigkeit an der Staatsoperette Dresden enden. "Meine Firma für Veranstaltungstechnik und Bühnenbild betreibe ich zu meiner Freude weiter." Anfragen gebe es genug. Ansonsten wäre da noch so mancher Männerabend.

"Männerabend - Swing dein Ding", nächste Vorstellungen: 13./14./15./17. April, je 19.30 Uhr, 16. April, 15 Uhr, Boulevardtheater, Maternistraße 17. Tickets wochentags von 10 bis 18 Uhr unter 0351 26353526. www.boulevardtheater.de