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Dresdnerin sucht monatelang nach Psychotherapeuten – erfolglos

Während der Pandemie litt eine Dresdnerin unter Depressionen und suchte einen Therapeuten. Immer wieder bekam sie zu hören, dass nur Menschen mit Suizidversuch unterkommen. Wie kann das sein?

Von Theresa Hellwig
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Melina Nowak, die eigentlich anders heißt, suchte lange nach einem Therapieplatz - erfolglos. Um Hilfe zu bekommen, griff die Frau aus Dresden schließlich ins eigene Portemonnaie.
Melina Nowak, die eigentlich anders heißt, suchte lange nach einem Therapieplatz - erfolglos. Um Hilfe zu bekommen, griff die Frau aus Dresden schließlich ins eigene Portemonnaie. © René Meinig

Dresden. In ihrer schlimmsten Zeit schaffte es Melina Nowak nicht einmal, zu duschen. Nach der Arbeit gab es für sie kein Abendbrot; die Dresdnerin legte sich einfach nur ins Bett. "Mehr war einfach nicht drin", sagt sie. Heute, so erzählt die 27-Jährige, ist sie wieder stabil. Aber damals, in der Kernzeit der Corona-Pandemie, litt sie unter Depressionen. Und die Suche nach Hilfe war für sie keine einfache: Monatelang suchte sie nach einem Therapieplatz – und fand keinen.

"Ich bin nie psychisch stark gewesen", erzählt Melina Nowak, die eigentlich anders heißt. "Aber die Coronamaßnahmen haben mich an meine Grenzen gebracht." Sie sei in Polen geboren – und durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie konnte sie ihre Familie nicht besuchen. Sie habe sich immer mehr in ihren eigenen vier Wänden gefangen gefühlt, berichtet die Mechatronikerin. Nicht nur sie selber habe wahrgenommen, dass es ihr immer schlechter ging. Auch ihr damaliger Freund habe sie dazu gedrängt, zum Arzt zu gehen.

Viele Dresdner warten lange auf einen Therapieplatz

Doch trotz einer Überweisung des Hausarztes fand Melina Nowak keinen Psychotherapeuten und keine Psychotherapeutin, die sie aufnahmen. Mindestens acht Praxen in Dresden habe sie damals kontaktiert.

"Immer wieder hörte ich am Telefon den Satz: Es werden nur Leute aufgenommen, die bereits einen Suizidversuch hinter sich haben", sagt sie. Jede Ablehnung wog schwer: Mit ihren Depressionen waren die Anrufe für sie eine große Überwindung. "Das war schrecklich für mich", erinnert sich Melina Nowak. "Mein damaliger Freund hatte Angst, dass ich mir etwas antue", sagt sie. Und auch sie konnte diese Sorge nicht ganz von sich weisen: "Ich habe damals überhaupt keinen Ausweg gesehen."

Diese Ablehnung ist ein echtes Problem für Betroffene, weiß Antje Orgass von der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer (OPK). "Wer an Depressionen erkrankt ist, leidet ohnehin schon und hat das Gefühl, nichts wert zu sein", erklärt sie. "Die Absagen können dieses Gefühl verstärken." Es ist ein Problem, mit dem sich die OPK viel befasst. Denn mit ihrem Erlebnis ist Melina Nowak nicht alleine.

Dresden hat offiziell zu viele Therapeuten

"In der Coronazeit ging es vielen Menschen, denen es in der Zwischenzeit schon einmal besser ging, wieder schlechter", erklärt Antje Orgass. Weil die Therapeutinnen und Therapeuten die Betroffenen wieder aufnahmen, hatten sie noch weniger freie Kapazitäten als ohnehin schon. "Deshalb haben einige Praxen die wenigen freien Plätze, die sie hatten, für absolute Notfälle freigehalten", erklärt sie die Aussage, die Melina Nowak mehrfach zu hören bekam.

Aber auch jetzt bestehe noch immer ein Mangel an Therapieplätzen. Im Schnitt, so berichtet Antje Orgass, warten Patientinnen und Patienten in Deutschland aktuell 140 Tage auf einen Termin – also über vier Monate.

Das Problem liegt unter anderem an veralteten Bedarfszahlen, die festlegen, wie viele Psychotherapeutinnen oder Psychotherapeuten sich in einer Region niederlassen dürfen, berichtet sie. Denn wer einmal Studium und Ausbildung durchlaufen hat, darf nicht einfach eine psychotherapeutische Praxis eröffnen. Die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen schreibt vor, wie viele Praxen es geben darf.

In Dresden sind das derzeit 241,6 Vollzeitäquivalente. Damit ist gemeint, dass sich manchmal auch zwei Therapeutinnen oder Therapeuten einen Kassensitz teilen – in der Summe gibt es also mehr Menschen, die Therapien anbieten als diese 241,6.

Ein Therapeut betreut mehr als 2.000 Dresdner

Auf dem Papier gilt die Stadt Dresden damit bereits als überversorgt. Sicher ist aber auch: Das reicht nicht, rechnet Antje Orgass vor. Denn ein Therapeut oder eine Therapeutin sei damit zuständig für mehr als 2.000 Dresdner. Und: "Früher war Hilfesuchen mit Scham besetzt – heute lassen sich mehr Menschen helfen. Der Bedarf steigt", sagt sie.

Tatsächlich weiß die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen von dem Problem. Sie berichtet von jetzt bis zum Jahr 2030 von einem Nachfrageanstieg an Therapieplätzen um 23 Prozent. Dies sei von den Bedarfszahlen, die die Praxissitze beschränken, nicht abgedeckt. "Eine Anpassung muss durch den Gesetzgeber erfolgen", sagt eine Sprecherin.

Antje Orgass von der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer empfiehlt Betroffenen deshalb, sich über das Service-Telefon 116117 Hilfe zu suchen. Von dort aus werden Termine vermittelt. "Es ist wichtig, dass die Betroffenen nicht nachlassen und weiter anrufen. Das Problem liegt im System, nicht bei den Patienten", sagt sie.

Auch in innovative Projekte setzt Antje Orgass Hoffnung. So gebe es beispielsweise Projekte, die präventiv an Schulen arbeiten. Und: Viele Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bieten mittlerweile Gruppentherapien an, wenn es passt – um mehr Menschen helfen zu können.

Melina Nowak hat davon noch nicht profitiert. Sie hat damals kurzfristig Hilfe in der psychologischen Beratung des Vereins Polonia Dresden gefunden. Außerdem hat sie Geld gespart – und sich bei einem Psychologen, der nach dem Heilpraktikergesetz zugelassen ist, auf eigene Kosten Hilfe gesucht. "Gerade geht es mir gut", sagt sie. Aber das Thema sei ihr immer noch wichtig. "Es hat ja nicht jeder das Geld, sich auf diesem Wege Hilfe zu suchen", sagt sie. "Es muss sich etwas tun."

Anmerkung der Redaktion: Aufgrund der hohen Nachahmerquote berichten wir in der Regel nicht über das Thema Suizid, außer es erfährt durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Selbstmordgedanken leiden oder Sie jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie erreichen sie telefonisch unter 0800 1110111 und 0800 1110222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.