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Hilferuf von Sachsens Psychotherapeuten: „Kein Platz für Kinder mehr frei“

Depressionen bis hin zu Suizidgedanken: Einige Minderjährige leiden extrem unter den Pandemiefolgen. Wie Therapeuten die Wartezeiten verkürzen wollen.

Von Susanne Plecher
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Keine Freude mehr?
Keine Freude mehr? © 123rf

In der psychotherapeutischen Praxis von Barbara Breuer-Radbruch hat sich die Mutter eines Mädchens gemeldet. Seit Beginn des ersten Lockdowns vor zwei Jahren habe sich die Tochter immer weiter eingeigelt. „Sport weg, Freunde weg, sie sitzt nur noch daheim rum und hat inzwischen Suizidgedanken“, sagt die Psychotherapeutin. „Ich habe keinen Platz mehr frei, aber natürlich werde ich dem Mädchen irgendwie helfen und sehen, was möglich ist“, so Breuer-Radbruch, die auch Vorstandsmitglied der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer ist.

Am Donnerstag hat die Kammer Lösungsvorschläge für die akute Situation in den Praxen vorgestellt. Das Beispiel umschreibt das Szenario, das sich jeden Tag in den Praxen wiederholt. „Manchmal haben wir in 60 Minuten Telefonsprechstunde 30 Anrufe von Eltern hilfsbedürftiger Kinder oder Jugendlicher – und keinen einzigen Platz frei. Aber wir können sie auch nicht an Kollegen weitergeben, weil die auch alle voll sind“, schildert Sabine Ahrens-Eipper, Psychologische Psychotherapeutin und ebenfalls Vorstandsmitglied bei der Kammer.

Eine aktuelle Umfrage unter ihren Kollegen hat ergeben, dass 77,5 Prozent aller ostdeutschen Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche „völlig ausgelastet“ sind. Nur 20 Prozent haben „einzelne Termine für Erstkontakte oder Krisen“ frei. Gleichzeitig ist die Häufigkeit der Anfragen um 63 Prozent gestiegen – im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit, als die Praxen bereits ebenfalls überlaufen waren. Damals mussten sich Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen drei bis fünf Monate gedulden. Inzwischen sind Wartezeiten von einem Jahr die Regel.

Welche psychischen Probleme haben Kinder und Jugendliche entwickelt?

Kinder und Jugendliche haben in besonderem Maß unter den monatelangen Lockdowns gelitten. Strukturierte Tagesabläufe, Lernen in der Schule, Freunde treffen, im Verein Sport treiben, zum Musikunterricht gehen oder einfach mal ohne unter permanenter Beobachtung der Eltern zu stehen und Freiräume zu genießen – all das war sehr lange nicht möglich. Die meisten sind halbwegs damit zurecht gekommen und nach dem Aufheben der Beschränkungen wieder ins normale Leben zurückgekehrt.

Doch etlichen ist das nicht gelungen. Sie leiden unter Angst- und Zwangsstörungen, haben Ess- oder affektive Störungen entwickelt, sind viel länger im Internet unterwegs, haben häufiger depressive Symptome wie Traurigkeit und Interessenverlust. Psychosomatische Beschwerden wie Kopf- und Bauchschmerzen treten vermehrt auf. Auch die Stressbelastung der Eltern wirkt sich signifikant auf die Verhaltensauffälligkeit der Kinder aus.

Viele haben sich sozial zurückgezogen. Auch sei Schulvermeidung oder Abstinenz ein zunehmendes Problem. Einem Teil der Schüler mit psychischen Problemen fiel die Umstellung vom Homeschooling zurück zum Regelbetrieb sehr schwer. Sie waren dem Lärm und der Menschenmenge nicht mehr gewachsen und hatten keinen Antrieb, in die Schule zu gehen. Besonders stark betroffen sind 14- bis 17-Jährige.

„Die Pandemie hat einerseits bei Kindern und Jugendlichen vorhandene emotionale und soziale Schwierigkeiten häufig wie ein Katalysator verstärkt. Anderseits wirkt die pandemische Lage wie ein Brennglas auf die Probleme und Defizite im gesundheitsbezogenen Versorgungssystem“, stellt Barbara Breuer-Radbruch fest.

Wie ist die Situation in Praxen und Kliniken?

Zusätzlich zu den massiv angestiegenen Terminanfragen in den kinder- und jugendlichenpsychotherapeutischen Praxen und Ambulanzen kämen fast als gesund entlassene Patienten mit Symptomen zurück. Das bindet Plätze. Gleichzeitig würden die Fälle immer komplexer, Betroffene hätten mehr Symptome und würden immer stärker leiden. Die notwendige Versorgung sei in der Mehrzahl der Fälle nicht mehr zeitnah gewährleistet, Unter- und Fehlversorgung psychischer Erkrankungen drohten. „Das hat nicht absehbare Folgen für die Betroffenen und für die ganze Gesellschaft“, sagt Cornelia Metge, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus Zschopau und ebenfalls in der Kammer organisiert.

Hinzu kommen erhöhte Rückfallraten von stationär betreuten Patienten. Weil es derzeit kaum Chancen gebe, selbst Kinder und Jugendliche mit sehr starken Problematiken wie Essstörungen, Suizidgedanken oder Suchtproblemen stationär einzuweisen, werden auch sie ambulant versorgt. „Leider werden die Patienten dann nur medikamentös eingestellt und wieder nach Hause geschickt“, sagt Breuer-Radbruch. Viele Kollegen seien damit „am Limit“. Auch die Erziehungs- und Beratungsstellen berichten von einem Beratungsbedarf, der nicht mehr zu bewältigen ist.

Wie gehen die Therapeuten mit der Situation um?

Um diesen Engpass in den Praxen und Ambulanzen aufzulösen, hat die Kammer schon im Frühjahr 2021 Experten aus dem ambulanten und stationären Bereich, von Beratungsstellen und aus Hochschulen zusammengeführt, Studien ausgewertet und Umfragen gemacht. Das umfassende Lagebild, das sich daraus ergab, mündete in einem Strategiepapier, das die Kammer bereits Ende Dezember 2021 an Abgeordnete, Ministerien, Krankenkassen und Verbände schickte.

Ziel ist, mit zeitlich begrenzten und mit langfristigen Maßnahmen die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen wieder herzustellen und zu erhalten. In Sachsen hat die Kammer daraufhin Gespräche mit den Sozial- und Kultusministerien, den Krankenkassen AOK Plus, Barmer und DAK und dem Landesamt für Schule und Bildung sowie Sozialverbänden geführt. Alle zeigten sich schockiert und wollten etwas ändern, so Ahrens-Eipper.

Welche Ideen gibt es, um die Versorgung zu verbessern?

Oberste Priorität hat, dass Kindern und Jugendlichen in psychischer Not wieder ein zeitnaher Zugang zur psychotherapeutischen Versorgung ermöglicht wird. Dafür wäre es nötig, dass mehr Psychotherapeuten ermöglicht wird, eine Praxis zu eröffnen. In der Pflicht ist hier die Kassenärztliche Vereinigung.

Das Leistungsspektrum in den Praxen zu erweitern und zu differenzieren, wäre auch ein Baustein, um den Zugang zur Psychotherapie zu erleichtern und die Behandlungskapazitäten besser zu nutzen. So könnten psychoedukative Gruppen an Pädagogen oder Sozialpädagogen delegiert werden. Ähnliches gilt für übende Verfahren wie Progressive Muskelentspannung, autogenes Training oder Angebote zur Stressreduktion.

Zudem müsse die Gruppenpsychotherapie gestärkt und flächendeckend sozialpsychiatrische Dienste für Kinder und Jugendliche eingerichtet und in Kitas, Schule und Kommune mehr Präventionsangebote gemacht werden.

Wichtig sei der Ausbau der Schulsozialarbeit und -psychologie. Laut Kultusministerkonferenz sollte ein Psychotherapeut 5.000 Schüler mit psychischen Schwierigkeiten betreuen. „Schon dieser Schlüssel ist absurd“, so Ahrens-Eipper. Aber die sächsische Realität ist noch absurder: 8.812 Schüler kamen 2020 auf einen Psychotherapeuten. „Da werden Kinder krank, die nicht krank werden müssten“, sagt sie.