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"Viele Eltern sind total verunsichert": Dresdner Verein unterstützt Familien mit Transgender-Kindern

Seit mehr als 30 Jahren berät der Verein "Gerede" in Dresden all jene, die mit einem Geschlechterwechsel konfrontiert sind. Warum der Bedarf weiter steigt.

Von Nora Domschke
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Georg Hennig und Anne Liebeck beraten beim Verein "Gerede" in der Dresdner Neustadt Jugendliche, die ihr Geschlecht wechseln wollen - und auch deren Eltern.
Georg Hennig und Anne Liebeck beraten beim Verein "Gerede" in der Dresdner Neustadt Jugendliche, die ihr Geschlecht wechseln wollen - und auch deren Eltern. © Sven Ellger

Dresden. Immer mehr Menschen, nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche, wünschen sich ein Leben abseits der gängigen Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität. Auch in Dresden. Ende Februar veröffentlichte Sächsische.de die Geschichte eines Jungen, der im Körper eines Mädchens geboren wurde und mit 13 Jahren entscheidet, dass er mit einem Jungennamen angesprochen werden will. Auch sein Freund erzählt von seinem Weg, der damit beginnt, dass er sich schon im Kindesalter im eigenen Körper nicht wohlfühlt. Heute, mit 16 Jahren, bekommt er regelmäßig Testosteronspritzen und lebt sein Leben auch körperlich als Transmann.

Einen anderen Blick auf die Geschichte der beiden Jungs wirft die Mutter des heute 14-Jährigen, die mit der Situation völlig überfordert ist - auch, weil ihr Kind nun ebenfalls Hormone oder sogenannte Pubertätsblocker nehmen will, um sich körperlich zu verändern. Sie hat Angst um die Gesundheit ihres Kindes, weil sie nicht weiß, wie genau sich Pubertätsblocker im Körper ihres Kindes auswirken. In ihrer Hilflosigkeit sucht sie eine Dresdner Zweigstelle des Jugendamtes auf. Hilfe findet sie dort allerdings keine, sie wird abgewiesen, man können ihr mit ihrem Problem nicht weiterhelfen.

"Schade, dass es so gelaufen ist", sagen Georg Hennig und Anne Liebeck, die beide beim Dresdner Verein "Gerede" arbeiten, eine Fachstelle, die quasi als Arm des Jugendamtes agiert. Sie sind Ansprechpartner für queere Menschen und ihre Familien. Als "queer" bezeichnet man Menschen mit sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten abseits der bislang gängigen Kategorien wie etwa Mann und Frau oder hetero- und homosexuell.

2.000 Beratungsgespräche pro Jahr - allein in Dresden

Die Mitarbeiter des Gerede-Vereins, den es schon seit 1990 in Dresden gibt, sind in ganz Ostsachsen unterwegs, um in Schulen über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt aufzuklären. Das sei nötig, weil in vielen Klassen Transgender-Kinder lernen. Lehrer und Mitschüler sollen bei diesem Thema mitgenommen werden.

Ein weiterer Aufgabenbereich des Vereins ist die Beratung von Familien, deren Kind den Wunsch zur Geschlechtsangleichung hat. Die Fragen der betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihrer Eltern sind vielfältig: Welche Wege gibt es für Menschen mit einem Transwunsch? Wie sollen und können Eltern ihr Kind auf diesem Weg unterstützen? "Viele Eltern sind einfach total hilflos und verunsichert. Und viele fragen sich, ob sie etwas falsch gemacht haben", sagt Georg Hennig.

Die Nachfrage zu solchen Beratungsgesprächen steigt seit Jahren. Zum Jahresbeginn 2023 gipfelte der Ansturm in zehn bis 15 Anfragen - täglich. Georg Hennig weiß, dass das an der Weihnachtszeit liegt, in der die Familien viel zusammen sind und Probleme offenbar werden. Der 31-jährige studierte Pädagoge arbeitet seit fünf Jahren im Gerede und lässt sich derzeit noch zum systemischen Therapeuten ausbilden. Pro Jahr sitzen er und Anne Liebeck in rund 2.000 Gesprächen - nur in Dresden. Dazu kommen Termine in ganz Ostsachsen. Am Tag sind es drei bis vier Beratungen, die zwischen 45 und 90 Minuten dauern. "Wir sind mit 1,5 Stellen für diesen Job zurzeit super ausgelastet." Wer jetzt anruft, bekommt frühestens im Mai einen Termin.

"Lehrer fragen: 'Warum taucht plötzlich das Transthema so vermehrt auf?'"

Aber warum ist der Bedarf so sehr angestiegen? Anne Liebeck, die Soziologie studiert hat und seit 2013 im Gerede arbeitet, kennt diese Frage von ihrem Bildungsprojekt "Respekt beginnt im Kopf", mit dem sie in Schulen unterwegs ist. "Lehrer, die seit 30 Jahren in diesem Beruf arbeiten, fragen mich genau das: 'Warum taucht plötzlich das Transthema so vermehrt auf?' Dazu kann ich nur sagen: Weil sich diese Kinder und Jugendlichen bislang versteckt haben." Oder gestorben sind, fügt Anne Liebeck an. So hätten Studien gezeigt, dass 75 Prozent der Betroffenen, die keine Hormontherapie machen, unter Depressionen leiden. 40 Prozent tragen sich sogar mit dem Suizidgedanken. "Das Problem sind nicht die Transmenschen, sondern deren Akzeptanz in der Gesellschaft."

Akzeptanz, das ist auch eines der Schlüsselworte in den Familien selbst. Georg Hennig geht in seinen Gesprächen auf die individuelle Situation ein. "Es ist gut, wenn ich Betroffene und Eltern erst einmal getrennt voneinander anhöre." So sei es für die jeweilige Seite einfacher, Probleme anzusprechen, ohne Angst, jemanden zu verletzen. "Dann erkläre ich, welchen Weg ein Transmensch rechtlich und medizinisch gehen kann."

Sollten die Probleme tiefgreifender sein, bietet Georg Hennig auch eine psychosoziale Beratung an. In verschiedenen Gruppen ist zudem der Austausch mit Gleichgesinnten möglich. "Dort sind die Betroffenen am besten aufgehoben, denn sie hören von den Erfahrungen, die andere auf ihrem Weg bereits gemacht haben."

"Eltern sollten die Bedürfnisse ihres Kindes ernst nehmen"

Einer dieser Wege ist die Einnahme von Pubertätsblockern, was aber ohnehin relativ selten sei, weil das nur Sinn mache, bevor die Pubertät überhaupt eingesetzt hat, erklärt Georg Hennig. Im Jugendalter geht es indes um eine Hormonersatztherapie, womit die Ausprägung des Wunschgeschlechtes verstärkt wird. Während der Dresdner Kinder- und Jugendpsychiater Veit Roessner davor warnt, Pubertätsblocker einzusetzen, sehen Georg Hennig und Anne Liebeck in ihnen eine wichtige Möglichkeit für die Betroffenen, ihre eigene körperliche Entwicklung für einen bestimmten Zeitraum aufzuhalten. Damit sollen Transjugendliche vor einer traumatischen Pubertätserfahrung beschützt werden. "Pubertätsblocker sind auch deshalb gut, weil der Weg für einen Transmenschen schwierig und lang ist."

Dass die Pubertätsblocker noch nicht ausreichend erforscht seien und deshalb nichts zu Langzeitfolgen bekannt sei - dem können Hennig und Liebeck nicht folgen. "Natürlich gibt es Studien dazu, die valide sind." Sie verweisen auf eine Untersuchung in den USA, bei der Transjugendliche fünf Jahre lang auf ihrem Weg begleitet wurden. Georg Hennig betont die strengen Vorgaben und den langen Prozess, an dem viele Menschen beteiligt sind, bevor der Betroffene etwa Hormone verschrieben bekommt oder gar eine geschlechtsangleichende Operation geplant ist.

"Wir bewegen uns mit unserer Arbeit immer im Spagat zwischen dem Kind und den Eltern. Wir wollen uns nicht auf eine Seite stellen." Ziel sei es aber immer, so Anne Liebeck, dass die Familien erhalten bleiben und nicht daran zerbrechen. "Die Eltern sind enorm wichtig auf dem Weg dieser Jugendlichen." Sie sollten die Bedürfnisse ihres Kindes ernst nehmen.

Dennoch müsse auch den Jugendlichen klargemacht werden, dass ihre Eltern Zeit brauchen. Stichwort Akzeptanz. "So ein Weg ist kein Sprint, sondern ein Marathon", sagt Georg Hennig. "Wir holen die Eltern ab, wo sie stehen, und gehen den Weg gemeinsam mit ihnen." Letztlich gehe es allen Beteiligten immer um das Wohl des Kindes, betont Hennig. "Das steht über allem im Mittelpunkt."

Der Gerede e. V. ist im Stadtteilhaus Neustadt, Prießnitzstraße 18, zu finden und erreichbar unter: [email protected]; 0351 8022251; www.gerede-dresden.de