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Paar aus Dresden: „Wir erziehen unser Kind geschlechtsneutral“

Nicht Junge, nicht Mädchen, einfach nur Es: Ein Paar aus Dresden hält das Geschlecht seines Kindes geheim – und muss sich dafür oft rechtfertigen. Was sagen Wissenschaftler dazu?

Von Sylvia Miskowiec
 8 Min.
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Junge? Mädchen? Kind!
Junge? Mädchen? Kind! © 123rf

Lou trägt heute ein gelbes Jäckchen über den beigefarbenen Hosen, auf dem Kopf sitzt eine hellblaue Schiebermütze, unter der braune Locken hervorlugen. Mit der Plastikschaufel in der Hand stürmt das Kind auf den Spielplatz und beginnt begeistert zu buddeln. Lou heißt allerdings in Wirklichkeit nicht Lou, und auch die Eltern, hier Lutz und Nora genannt, tragen andere Namen. Sie möchten ihre Privatsphäre schützen. „Wir haben in der eigenen Familie schon genug Gerede“, sagt Nora. Denn sie und ihr Partner weichen in ihrer Erziehung von einer Norm ab, die die Gesellschaft bis heute definiert: Sie erziehen ihr Kind geschlechtsneutral.

Welches nach außen sichtbare biologische Geschlecht Lou hat, weiß niemand aus der Verwandtschaft, nur Nora und Lutz. Und das auch erst seit der Geburt. Bei der einzigen Ultraschalluntersuchung, die Nora wahrgenommen hat, habe sie sich weggedreht, als der Ultraschallkopf in Richtung Körpermitte des Fötus wanderte.

Eltern wollen keine Geschlechterklischees bedienen

„Warum ist es denn so wichtig, zu wissen, was da zwischen den Beinen ist“, sagt die Mutter. „Das macht doch nicht den Menschen an sich aus, sondern ruft nur Vorurteile und Schubladendenken auf den Plan.“ Genau das wollen beide Elternteile verhindern. Lou soll ohne „Jungs weinen nicht“ oder „Mädchen tragen Rosa“ aufwachsen. In seinem Job als Physiklehrer habe Lutz gesehen, wohin binär geprägte Erziehung führe. „In der zehnten Klasse habe ich oft sehr begabte Mädchen im Physikunterricht sitzen, die sich dann aber nicht trauen, den Leistungskurs zu wählen, weil es angeblich ein Jungsfach ist. So eine Denke will ich für mein Kind nicht.“

Wenn Lutz und Nora über Lou sprechen, dann nicht über „ihn“ oder „sie“, sondern über „es“. Das Pronomen stehe für „das Kind“. „Wir haben darüber nachgedacht, ein weiteres Pronomen zu wählen, aber das war uns dann zu kompliziert“, sagt Lutz. Letztlich könnten andere Menschen einfach immer den Namen statt des Pronomens verwenden. Streng genderneutral erziehende Eltern in Deutschland weichen dagegen statt auf das Pronomen „es“ auf neue Wörter aus, wenn sie über ihr Kind sprechen. Benutzt werden Pronomen wie „xier“ oder „em“, andere weichen auf das Englische „they“ oder das Schwedische „hen“ aus. Auch Namen, die nicht eindeutig einem Geschlecht zuordenbar sind, dürfen in Deutschland mittlerweile verwendet werden. Ende 2008 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass Unisexnamen auch ohne einen weiteren, geschlechtsbestimmenden Vornamen rechtens sind.

Dogmen helfen nicht weiter

„Eine rein binäre Welt, die streng zwischen Mann und Frau aufgeteilt ist, ist für uns nur eine Erfindung der Gesellschaft“, sagt Nora. Tatsächlich kennt die Biologie mehr Ausprägungen für Geschlechter als nur die XX- und XY-Chromosomen, die für weiblich und männlich stehen. „Genetisch spielen etwa tausend Gene für uns eine Rolle, genauer erforscht sind gerade mal 80“, sagt Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß von der Universität Merseburg. „Schon der Gelehrte Wilhelm von Humboldt hat zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesagt, dass es unendlich schwer sei, hundertprozentige Männlichkeit oder absolute Weiblichkeit zu finden.“ Bedenklich sei es aber, wenn die unbedingte Neutralität zu einem Dogma werde. „Weder das konsequente Einteilen in Junge und Mädchen noch absolute Neutralität tun gut“, so Voß. „Entspannte Offenheit ist hier das Zauberwort.“

Dem stimmt auch Cornelia Wustmann zu. „Geschlechtsoffene, von Klischees befreite Erziehung ist äußerst wichtig, etwa, wenn wir Chancengleichheit erreichen und gegen Frauendiskriminierung angehen wollen.“ Die Dekanin der erziehungswissenschaftlichen Fakultät der TU Dresden hält es allerdings für falsch, das Geschlecht eines Kindes gar nicht zu thematisieren. „Geschlechtsneutrale Erziehung funktioniert nicht. Kinder wollen wissen, wer sie sind, auch als geschlechtliche Wesen – wir leben nun mal in einer binär geprägten Welt“, sagt Wustmann. „Es ist zumindest sehr wichtig, dass das Kind weiß, welche Geschlechtsorgane es hat“, betont auch Sexualwissenschaftler Voß. „Die Genitalien gehören zum Körper, ihnen gebührt die gleiche Aufmerksamkeit und Achtung wie allen anderen Körperteilen auch.“ Alle gelte es frei von Scham zu entdecken.

Dem widersprechen auch Lutz und Nora nicht. Ihr Kind wisse, welche Genitalien es habe, es werde nichts verschwiegen. „Gerade auch, um sexuelle Übergriffe zu vermeiden, ist es uns ein großes Anliegen, da ganz offen gegenüber Lou zu sein. Wir wollen nur keine Reduzierung der Person auf Genitalien.“

Ohnehin befinden sich Kinder bis zum vierten, fünften Lebensjahr laut Voß in einer unbeschwerten Findungsphase, nicht nur was den eigenen Körper angeht. In dieser Zeit probieren Jungs schon mal Mutters Lippenstift, schlüpfen in Kleidchen, während Mädchen begeistert mit Spielzeugautos hantieren und durch den Matsch robben. „Das sollten Eltern alles zulassen, solange keine gesundheitlichen Gefahren bestehen“, raten Voß und Wustmann. Und das, solange die Kinder Lust darauf haben, eine konkrete Altersgrenze gebe es nicht. Geschlechtsspezifische Hormone wie das als „typisch männlich“ bezeichnete Testosteron übernehmen erst ungefähr mit dem Ende der Grundschule das Ruder und können den Ausschlag für die ein oder andere Vorliebe und das Verhalten geben.

„Verwirrt sind eher die Erwachsenen“

Auch Lou darf nach Herzenslust rosa tragen, begleitet den Vater zum sonntäglichen Fußballkick, liebt den Bagger auf dem Spielplatz, schiebt aber genauso gern den Puppenwagen durch die Gegend. Gedanken um geschlechtsneutrales Spielzeug haben sich die Eltern nicht gemacht. Gekauft wird wenig, Spielzeug und Kleidung wird im Freundeskreis hin- und hergetauscht.

Was locker klingt, ist es jedoch nicht immer. Besonders Nora hadert mit Reaktionen und skeptischen Nachfragen von anderen Menschen. „Ich bin eigentlich ein Bauchmensch, rede gern frei weg. Doch ich habe mittlerweile zig Studien gelesen, die sich mit Gender und Erziehung beschäftigen, weil ich das Gefühl habe, ich muss mich ständig rechtfertigen.“ Einer der häufigsten Vorwürfe, den sie höre, sei: „Ihr verwirrt doch das Kind.“ Dann werde sie regelmäßig wütend. „Verwirrung entsteht meiner Meinung nach, wenn die Beziehung zu den Eltern nicht stabil ist, Eltern keine Wärme geben, nicht für das Kind da sind, was gerade in den ersten Lebensjahren viel wichtiger als eine Geschlechtsidentität ist.“

Unterstützung erhält die 25-Jährige in diesem Punkt von Sexualwissenschaftler Voß. „Verwirrt sind eher die Erwachsenen, wenn sie von geschlechtsoffener Erziehung hören. Unser binär geprägtes Weltbild ist sehr gefestigt, und die meisten fühlen sich bei Abweichungen nicht wohl.“ Kindern jedoch sei das noch reichlich egal. Im Buch von Ravna Marin Siever „Was wird es denn? Ein Kind!“ heißt es dazu: „Kinder finden mehr als zwei Geschlechter genauso wenig verwirrend wie mehr als zwei Pokémon.“ Das Einzige, was geschlechtsoffen aufwachsende Kinder verwirre, seien höchstens die Erwachsenen um sie herum, die alles und alle vergeschlechtlichten.

Egal, welchen Erziehungsstil Eltern wählen, eines sollten sie alle beherzigen, rät Professor Voß: „Ihr Einfluss ist begrenzt. Kinder bekommen sehr viele Eindrücke aus der Gesellschaft mit. Die können Eltern einordnen, aber ganz fernhalten funktioniert nicht.“ So hat auch Lou schon öfter von anderen Kindern die Frage gehört, ob es ein Junge oder Mädchen sei. Eine Vierjährige habe Lou angeschaut und gesagt: „Du musst ein Mädchen sein. Du bist viel zu hübsch für einen Jungen.“ Während Vater Lutz darüber etwas schmunzelt, ist seiner Partnerin nicht nach Lachen zumute. „Da sieht man, wie schnell Kinder Geschlechterklischees verinnerlichen.“

Bis auf Spielplatzbekanntschaften wird es für Lou noch eine Zeit lang etwas ruhiger bleiben als für die meisten Kinder seines Alters. Das Zweijährige soll keine Kita besuchen, seine Mutter möchte mit ihm zu Hause bleiben. Dass sie damit ein weibliches Rollenklischee bedient, sei ihr durchaus bewusst. „Doch die Nähe zu meinem Kind ist mir wichtiger“, sagt Nora. Und wenn sich Lou eines Tages für ein bestimmtes Geschlecht entscheidet? „Dann soll es so sein. Genau diese Freiheit steht hinter unserer Erziehung.“

Eltern bewerten Schmerzen unterschiedlich

  • Mädchen sind Heulsusen, Jungs dagegen starke Kerle – dieses Klischee hält sich bis heute hartnäckig. Und hat Auswirkungen auf die Reaktionen von Erwachsenen auf Schmerzen von Kindern, wie mehrere Studien gezeigt haben.
  • Besondere Wellen schlugen die Erkenntnisse von Wissenschaftlern der amerikanischen Universität Yale. Sie starteten 2018 eine Testreihe, für die sie 264 Erwachsenen Videos zeigten, in denen sich Kinder am Finger verletzt hatten und weinten oder schrien. Die Kinder waren noch sehr klein. Auch war an der Kleidung nicht zu erkennen, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelte. Die Wissenschaftler sagten einer Hälfte der Erwachsenen, das Kind hieße Samuel, der anderen Hälfte wurde der Name Samantha genannt. Dann sollten die Probanden auf einer Skala das Schmerzempfinden der Kinder einschätzen.
  • Das Ergebnis wurde im renommierten Journal of Pediatric Psychology veröffentlicht: Erwachsene schätzten die Schmerzen von Samuel als deutlich größer und intensiver ein als jene von Samantha.
  • Die Wissenschaftler erklären dies damit, dass Jungen nachgesagt werde, stoischer Schmerzen ertragen zu können und erst zu weinen, wenn es schlimm sei. Mädchen dagegen würden als viel emotionaler angesehen. Unter Umständen können allerdings derartige Geschlechterstereotypen gesundheitsgefährdend für Mädchen sein.