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Hilfe in Dresden: Engel für Obdachlose

Claudia Mihaly-Anastasio frisiert mit den Barber Angels Bedürftige in Dresden. Sie selbst lebte als alleinerziehende Mutter von sechs Kindern von Hartz IV – und ist bei der Aktion nicht die Einzige mit bewegendem Schicksal.

Von Theresa Hellwig
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Claudia Mihaly-Anastasio schneidet Tibor Fehse (beide vorne links im Bild) die Haare. Der Wohnungslose arbeitet sich gerade zurück ins Leben. Friseurin "Claudi" macht ihm Mut.
Claudia Mihaly-Anastasio schneidet Tibor Fehse (beide vorne links im Bild) die Haare. Der Wohnungslose arbeitet sich gerade zurück ins Leben. Friseurin "Claudi" macht ihm Mut. © Marion Doering

Dresden. Der Nebel aus der Sprühflasche glitzert in den Strahlen der Wintersonne, die auf das Gesicht von Tibor Fehse scheint. Er hat die Augen geschlossen und genießt. Um ihn herum bewegt sich Claudia Mihaly-Anastasio. Geschickt zieht die 49-Jährige den Rasierapparat über den Kamm, durch den die grauen Haare von Tibor Fehse luken. Soweit eine klassische Szene, wie sie in jedem Friseursalon stattfinden könnte.

So ganz alltäglich ist die Szene aber eben nicht. Tibor Fehse sitzt auf einem Stuhl an einem Gruppentisch der Dresdner Heilsarmee; parallel bekommen dort sechs andere Menschen eine neue Frisur verpasst. Im Eingangsbereich des Raumes liegen Hygieneartikel und Kleidung aus, damit die frisch Frisierten diese mitnehmen können. Und die Friseurinnen und Friseure tragen Lederkutte. Es ist eine Aktion der sogenannten Barber Angels Brotherhood. In dem Verein sind rund 500 Friseure weltweit organisiert, die regelmäßig bedürftigen Menschen kostenlos die Haare schneiden.

Ein bewegendes Schicksal hat auch Heiko Garbe Fehse. Jahre lang lebte er in Leipzig auf der Straße, war alkoholkrank. Nun hilft er bei den Barber Angels. Für seine Kutte musste er hart kämpfen.
Ein bewegendes Schicksal hat auch Heiko Garbe Fehse. Jahre lang lebte er in Leipzig auf der Straße, war alkoholkrank. Nun hilft er bei den Barber Angels. Für seine Kutte musste er hart kämpfen. © Marion Doering

An diesem Sonntag in Dresden zücken 15 die Schere. Und Tibor Fehse ist einer der etwa 50 Bedürftigen, der eine neue Frisur verpasst bekommt. Zur Begrüßung hat Claudia Mihaly-Anastasio ihn zur lauten Musik angetanzt, dann an der Hand genommen und vom Sofa heraufgezogen. Sie hat ihn umarmt, ihm ein paar warme Worte ins Ohr geflüstert. Gefragt, wie es ihm geht. "Er ist Stammi", sagt sie. Stammkunde. Dreimal hat er sich schon von ihr die Haare schneiden lassen, die beiden kannten sich aber auch schon vorher. Vorher, das heißt: vor seinem Schicksalsschlag.

"Der große Fehler in meinem Leben war, dass ich auf eine Lebenspartnerin vertraut habe, die mein Konto geräumt hat", erzählt Tibor Fehse. 2013 sei das gewesen. 2015 sei die Frau verurteilt worden. Wiederbekommen habe er das Geld bis heute nicht. Das blieb nicht folgenlos für den heute 43-Jährigen: Zwei Monate lang reichte Fehses Geld damals noch aus, um die Miete zu bezahlen. Dann landete er auf der Straße.

Rund 50 Bedürftige lassen sich in Dresden frisieren

Über die Jahre, die folgten, redet er nicht so gerne. "Ich war selber in Haft", sagt er. Warum? "Das war was Organisatorisches. Ich will mich damit nicht rühmen." Es ist auch eine Zeit, aus der er raus will, sagt er. Es gehe doch bereits bergauf. Er bekomme jetzt Bürgergeld, habe viele Bewerbungen geschrieben. Sogar eine Ausbildung habe er vor einiger Zeit angefangen; zum Sozialassistenten. "Ich musste die allerdings abbrechen, wegen meines Führungszeugnisses", sagt er. "Das war ein herber Schlag."

Aufgeben sei aber keine Option, er bewerbe sich weiter. Auf Jobs – und um Wohnungen. Bislang hagelte es allerdings nur Absagen. "Ich will aber nicht jammern." Stattdessen sei er dankbar für den Platz in dem Übergangswohnheim, in dem er gerade schlafen könne. Er helfe anderen, wo er könne – zum Beispiel Älteren beim Einkauf. Und jetzt, just in diesem Moment, da solle Claudia Mihaly-Anastasio, die sich von allen nur "Claudi" nennen lässt, ihm helfen. Helfen, ihn jung zu halten, sagt er – und grinst.

Sein Ticket zahlte Heiko vom Flaschensammeln, um zu helfen

Und das tut sie gerne. "Viele, die dabei sind, sind selber durch eine schwere Zeit gegangen", sagt sie. Sie wolle sich da nicht ausnehmen. "Ich bin Mama von vier leiblichen und zwei adoptierten Kindern", sagt sie. Alleinerziehend, mit sechs Kindern – so sei sie in Hartz IV gerutscht. "Ich weiß, wie es ist, am 20. des Monats nicht zu wissen, wo das Geld für die restlichen Tage herkommen soll."

Sie sehe sich aber als gesegnet. So habe sie zum Beispiel eine Schwester, die sie sehr motiviert habe – und sie ermutigt habe, einen Friseursalon zu öffnen. Das habe sie dann auch getan. Vor 13 Jahren, in Freital.

2017 habe sie dann von den Barber Angels erfahren. Sie stellte einen Mitgliedsantrag – und bekam direkt einen Anruf. "30 Minuten später war klar, dass ich ein Chapter Sachsen eröffnen werde", sagt sie. Chapter – das sind die lokalen Ableger der Gruppe. Alle vier Wochen schneiden die sächsischen Barber Angels jetzt Bedürftigen die Haare – immer abwechselnd in Dresden, Leipzig und Chemnitz.

Auch Claudia Mihaly-Anastasios Sohn Fabio Noah ist Barber Angeld. Er hilft an der Kleiderausgabe - gemeinsam mit Emily Schreiber und Lucian Pfeifer. (v.l.n.r.)
Auch Claudia Mihaly-Anastasios Sohn Fabio Noah ist Barber Angeld. Er hilft an der Kleiderausgabe - gemeinsam mit Emily Schreiber und Lucian Pfeifer. (v.l.n.r.) © Marion Doering

Kommen dürfen nicht nur Obdachlose, sondern auch andere Bedürftige. "Wir arbeiten beispielsweise mit der Heilsarmee, den Maltesern oder der Bahnhofsmission zusammen", sagt sie. Diese geben dann Gutscheine für die gratis Haarschnitte aus.

Warum Claudia Mihaly-Anastasio das alles macht? "Ich habe kein Helfersyndrom", sagt sie. Aber Friseure seien Empathen; müssten sich ohnehin in ihre Kunden einfühlen können. "Ansonsten wären es bloß Haareschneider", sagt sie. "Wir sind doch alle Menschen."

Einer, der ebenfalls ein bewegendes Schicksal hat, ist Heiko Garbe. Der 42-Jährige trägt ebenfalls eine Barber Angels-Kutte, und er trägt sie mit besonders viel Stolz. Er ist kein Friseur, aber Helfer. Und für seine Kutte musste er besonders hart kämpfen. Denn der 42-Jährige lebte lange auf der Straße, war alkoholkrank. Gerade jetzt, sagt er, geht es für ihn auf eine schwere Zeit zu. "Weihnachten vor sieben Jahren habe ich meine Mutter verloren", sagt er. "Dann ging alles in die Brüche."

Für die Kutte musste Heiko hart arbeiten

Seine Wohnung von damals bezeichnet er selber als Messi-Bude. "Ich habe es einfach nicht geschafft, mich zu kümmern", sagt er. Er flog raus, suchte Zuflucht in hochprozentigen Flaschen. Es waren Flaschen, die er klauen musste – Geld hatte er nicht. Er lebte auf Leipzigs Straßen, schlief im Park vor dem Hauptbahnhof.

Mehrere Entsuchtungsversuche scheiterten, 2021 klappte es dann. Er fand sogar eine Bleibe und lebt jetzt in Erfurt in einer betreuten Unterkunft. "Viele liegen dort den ganzen Tag herum, aber das will ich nicht", sagt er. Noch in Leipzig lernte er die Barber Angels kennen, ließ sich selber frisieren.

Um mitzumachen, musste er allerdings trocken bleiben. Die Arbeit gab ihm neuen Sinn; das Geld für die Tickets zu den Aktionen sparte er mühsam zusammen, zahlte die Tickets teilweise vom Flaschensammeln. Und er schaffte es!

Rund 50 Bedürftige nahmen an der Aktion in Dresden an diesem Sonntag teil.
Rund 50 Bedürftige nahmen an der Aktion in Dresden an diesem Sonntag teil. © Marion Doering

Dennoch lassen ihn die Aktionen auch heute nicht kalt. Zwischendurch muss er rausgehen, ein paar Tränen wegwischen. "Mir ist schlecht geworden, als ich einige hier gesehen habe – und bemerkt habe, das war früher ich. Ich bin es aber nicht mehr", sagt er. Um einem der Friseure, der ihm geholfen hat, Danke zu sagen, umarmt er ihn. Und auch "Claudi" umarmt Heiko.

Die hat kurz zuvor den Umhang von Tibor Fehses Schultern gezogen, ihm seine neue Frisur im Handspiegel gezeigt. "So", sagt sie bestimmt. "Und jetzt gehst du morgen nochmal hin und sagst denen, dass du jetzt einen Ausbildungsvertrag haben möchtest. Du schaffst das!"