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Hunderte Wohnungen in Dresden zwangsgeräumt: Wie die Menschen in die Lebenskrise rutschen

Die Zahl der zwangsgeräumten Dresdner Wohnungen hat deutlich zugenommen. Warum immer mehr Menschen ihr Zuhause verlassen müssen und warum Sozialarbeiter schnelle Hilfe von der Stadt fordern.

Von Julia Vollmer
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Immer mehr Dresdner müssen raus aus ihrer Wohnung. Warum Zwangsräumungen in vielen Fällen nicht ihre Schuld sind.
Immer mehr Dresdner müssen raus aus ihrer Wohnung. Warum Zwangsräumungen in vielen Fällen nicht ihre Schuld sind. © Claudia Hübschmann (Symbolfoto)

Dresden. Von jetzt auf gleich stehen sie auf der Straße. Keine eigene Wohnung mehr, Erinnerungen und Möbel bleiben im alten Zuhause zurück. So ging es in den vergangenen Monaten hunderten Dresdnerinnen und Dresdnern. Sie wurden zwangsgeräumt.

Wie viele Dresdner sind zwangsgeräumt worden?

Nach Auskunft des Amtsgerichts gab es im Jahr 2022 in Dresden insgesamt 502 Zwangsräumungen und 270 allein im ersten Halbjahr 2023. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2020 mussten 440 Menschen ihre Wohnung verlassen, obwohl Räumungen wegen der Corona-Pandemie von März bis Mai ausgesetzt worden waren. Eine Entwicklung, die man auch bei der Dresdner Diakonie spürt: "Beim Thema Zwangsräumungen können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wohnungsnotfallhilfe eine höhere Zahl im Vergleich zum letzten Jahr bestätigen."

Aus welchen Gründen mussten die Menschen ihre Wohnungen räumen?

Bevor Mieter ihre Wohnung räumen müssen, muss zunächst ein sogenannter Räumungstitel vorliegen, erklärt Amtsgerichtssprecher Wolfgang Blümbott. Der Titel wird vom Gericht vergeben, wenn dies die Kündigung des Vermieters als berechtigt ansieht. Dass es bis zu solch einem Räumungstitel kommt, hat laut Blümbott vor allem einen Grund: "Sicherlich meist wegen Mietrückständen, aber hierzu gibt es keine statistischen Erfassungen."

In welchen Dresdner Stadtvierteln besonders viele Menschen von Räumungen betroffen sind, kann der Gerichtssprecher nicht beantworten. "Generell kann ich sagen, dass im Dresdner Norden wie in Pieschen und der Neustadt weniger geräumt wird als im Süden wie in Gorbitz und Reick." Ein großes Problem für die Betroffenen, so berichten verschiedene Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, sind die offenen Anträge auf Wohngeld in diesem Jahr. Diese führen zu Mietschulden und diese enden oft in Zwangsräumungen.

Wie viele offene Anträge für Wohngeld gibt es aktuell?

Tausende Anträge sind offen. Seit Monaten bekommt die Stadtverwaltung das Problem nicht abgeräumt. Seit der Reform gibt es mehr Berechtigte, das Sozialamt kommt mit der Bearbeitung nicht hinterher. Für die Betroffenen ist das ein großes Problem. "Gegenwärtig hat die Wohngeldstelle insgesamt 5.570 offene Wohngeldanträge zu verzeichnen." Darunter befinden sich laut Stadt unbearbeitete Anträge, aber auch Erhöhungsanträge sowie angefangene Anträge, bei welchen noch Unterlagen fehlen. Laut soll Sozialamt beträgt die durchschnittliche Bearbeitungszeit bei vier Monaten.

Mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind bereits eingestellt worden, sagt die Stadt. "Gegenwärtig sind 80 Sachbearbeiter mit der Bearbeitung von Wohngeldanträgen beschäftigt." Davon seien aber vier erst seit August bzw. September da und benötigten eine Einarbeitung.

Wie kann die Schuldnerberatung helfen?

"Die langen Bearbeitungszeiten für Wohngeldanträge sind ein großes Problem. Schuldnerberatung und allgemeine soziale Beratung erleben eine hohe Nachfrage zu diesem Thema", sagt Caritas-Sprecher Andreas Schuppert. "Die Bewilligung von Wohngeld dauert viel zu lange, die Klienten geraten in eine finanzielle Schieflage, zumal kaum Sparpotentiale bei den Ratsuchenden vorhanden sind."

Wenn dann die Nachzahlung komme, werde sie unter Umständen gepfändet, das führe wiederum häufig zur Kündigung der Wohnung. Außerdem führe allein die Anspruchsberechtigung dazu, dass weitere Leistungen, zum Beispiel bei einer Stiftung, nicht beantragt werden könnten, obwohl die Verschuldeten faktisch kein Geld bekommen.

Jens Heinrich, Leiter der Schuldnerberatung der AWO, beobachtet: "Die Wartezeiten auf Bewilligungsbescheide sind natürlich viel zu lang. Die betroffenen Haushalte sind massiv unter Spannung." Wartezeiten könnten selten von den Haushalten kompensiert werden. Die Schuldnerberatung könne die Gläubiger nur vertrösten, bis die Leistungen fließen, sagt er.

Wie viele offene Anträge für Bildung und Teilhabe gibt es?

Am Wohngeld-Antrag hängen noch andere Leistungen, etwa Zahlungen aus dem Paket Bildung und Teilhabe, über das Familien Schulessen, Nachhilfe oder Klassenfahrten zahlen können. Doch auch hier gibt es einen riesigen Antragsstau. "Aktuell existieren 7.654 offene Anträge in diesem Bereich", muss die Stadt zugeben. "Die Bearbeitungszeit von Bildung- und Teilhabeleistungen ist von der Bewilligung anderer Sozialleistungen abhängig, sodass es hier unterschiedliche Bearbeitungszeiten gibt", antwortet die Stadt auf die Frage, wie lange Familien warten müssen. Hinzu komme eine "angespannte Personalsituation" sowie steigende Antragszahlen, wodurch sich die Bearbeitung weiterhin verzögert.

Aber wie werden Familien unterstützt, wenn sie akut Geld brauchen, etwa für das Mittagessen oder Schulausflüge? Die Stadt verweist in dieser Frage an das Jobcenter. "Für andere Sozialleistungen wie Wohngeld, Leistungen nach dem Asyl-Bewerberleistungsgesetz, Kinderzuschlag oder Sozialhilfe müssen die Betreffenden bei der zuständigen Stelle die Dringlichkeit des Sachverhaltes darstellen", heißt es aus dem Rathaus.