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Verkehrsforscher zum Blauen Wunder: "Ein Recht auf flüssigen Autoverkehr gibt es nicht"

Der Radweg-Verkehrsversuch auf dem Blauen Wunder ist gescheitert. Warum der Dresdner Verkehrswissenschaftler Markus Egermann das für einen Fehler hält und wie er die Alternativen bewertet.

Von Kay Haufe
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Drei Wochen lang war der Verkehrsversuch am Blauen Wunder Stadtgespräch. Dass er abgebrochen wird, sei schade, sagt Verkehrsforscher Markus Egermann.
Drei Wochen lang war der Verkehrsversuch am Blauen Wunder Stadtgespräch. Dass er abgebrochen wird, sei schade, sagt Verkehrsforscher Markus Egermann. © dpa/Sebastian Kahnert; Matthias Rietschel

Dresden. Am Sonntag endet der Verkehrsversuch auf dem Blauen Wunder, vorzeitig. Die neuen Radwege vor, auf und hinter dem Blauen Wunder hatten von Anfang an zu Staus geführt, Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) brach den Versuch daraufhin ab. Sächische.de hat mit Markus Egermann vom Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung Dresden gesprochen. Dort leitet er den Forschungsbereich Transformative Kapazitäten und beschäftigt sich mit dem Wandel von Städten. Was er von dem abgebrochenen Radwege-Test hält und wie er andere Lösungen - etwa eine Verbreiterung des Blauen Wunders - bewertet.

Herr Egermann, wozu brauchen wir in Dresden einen Verkehrsversuch, bei dem schon vor Beginn klar war, dass lange Staus entstehen werden?

Weil wir eine Konkurrenz zwischen den Verkehrsteilnehmern Fußgänger, Radfahrer, ÖPNV-Nutzer und motorisiertem Individualverkehr haben, aber nur eine begrenzte Menge an Raum. Trotzdem wollen wir, dass sich darin alle sicher bewegen können. Für den Radverkehr ist das aber nicht der Fall, weshalb der Stadtrat bereits 2001 den damaligen Oberbürgermeister per einstimmigen Beschluss beauftragt hat, auf dem Blauen Wunder eine "verkehrssichere Radwegführung" zu entwickeln. Seither ist der Radverkehrsanteil gestiegen, dem Stadtratsbeschluss sind aber lange keine Taten gefolgt.

Dass die Stadtverwaltung jetzt einen Verkehrsversuch gestartet hat, ist positiv zu bewerten. Sie hätte die jetzige Situation mit dem mittigen Radweg auch einfach als ab jetzt geltende Änderung festlegen können. Stattdessen hat sie den Weg des Verkehrsversuches gewählt; wohl wissend, dass es auf dem Blauen Wunder nicht einfach ist, einen Kompromiss für alle Verkehrsteilnehmer zu finden.

Nun wird der rund 70.000 Euro teure Versuch aber nach drei Wochen abgebrochen. War es wirklich nötig, so viele Menschen zu spät kommen zu lassen und Zeit im Stau zu vergeuden? Hätten da Simulationen nicht ausgereicht?

Verkehrsmodelle können bestimmte Dinge, andere aber nicht. Wir wissen, dass rund 24.000 Fahrzeuge täglich über die Brücke fahren und können auch zählen, zu welchen Zeiten es besonders viele sind und wo sie abfließen. Aber Simulationen kennen keine individuellen Lebensumstände und das daraus resultierende Mobilitätsverhalten. Darüber bekommen wir erst Daten, wenn wir Menschen Entscheidungen treffen lassen.

Markus Egermann leitet am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung den Forschungsbereich Transformative Kapazitäten.
Markus Egermann leitet am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung den Forschungsbereich Transformative Kapazitäten. © Matthias Rietschel

Ich selbst wohne in Pillnitz und bin von den Staus direkt betroffen, im Übrigen auch schon vor dem Versuch. Manche sind auf die Brücke in Pirna ausgewichen, andere sind aufs Rad umgestiegen, wieder andere zu anderen Zeiten gefahren. Aber unser Mobilitätsverhalten ist tief in unseren Alltag integriert und lässt sich nicht mal eben umstellen. Dafür braucht es Zeit. Die Verkehrswissenschaft spricht von mindestens zwei Monaten, besser ein halbes Jahr. Deshalb ist es aus wissenschaftlicher und verkehrsplanerischer Sicht schade, dass der Versuch nicht bis zum Ende durchgeführt wird, um weitere belastbare Daten zu erhalten.

Das hieße aber, durch den Verkehrsversuch sollen Menschen letztlich gezwungen werden, andere Wege zu nutzen.

Nein, niemand wird zu irgendwas gezwungen. Aber Menschen werden die Situation neu bewerten müssen, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Das passiert im Übrigen ständig, weil sich Lebensumstände, Preise, Arbeitszeitmodelle, Technologien und auch Infrastrukturen immer wieder ändern. Diese Veränderungen bedeuten meist Stress, weil wir unsere Routinen lieben und sie nicht einfach so aufgeben wollen. Die Verkehrsplanung muss solche Abwägungen ebenfalls treffen. In dem Fall zwischen der Sicherheit der einen Verkehrsteilnehmer und einer Reisezeitverlängerung anderer Verkehrsteilnehmer. Wenn man diese beiden Güter abwägt, wird die Sicherheit höher gewichtet. Das dürfte kein Gericht der Welt anders sehen. Ein Recht auf flüssigen Autoverkehr gibt es nicht.

Was bleibt nach dem Versuch und gibt es überhaupt eine Lösung, die alle Verkehrsteilnehmer zufriedenstellen würde?

Was bleibt, sind die gewonnen Daten und Erkenntnisse aus dem Versuch, wobei ich die noch nicht kenne. Hier sollten wir mal abwarten und auch nicht aus unseren eigenen Alltagsbeobachtungen voreilige Schlüsse ziehen.

Wenn es die ideale Lösung gäbe, die alle glücklich macht, hätten wir sie vermutlich schon. Leider wird nun die Testvariante bei vielen Dresdnern als diejenige im Kopf hängen bleiben, die nicht funktioniert und so schlecht war, dass man den Versuch abbrechen musste. Das ist schade, denn so viele gute Alternativen haben wir nicht.

Die immer mal vorgeschlagene Lösung, den stromaufwärtigen Fußweg nur für Radfahrer, den anderen nur für Fußgänger zu nutzen, ist leider keine. Für den sicheren Begegnungsverkehr von zwei Radfahrern sollten idealerweise vier Meter Breite zur Verfügung stehen, es gibt aber nur etwa 2,50 Meter. Außerdem müssten wir aus Sicherheitsgründen das Geländer erhöhen und dies mit dem Denkmalschutz abstimmen. Und nicht zuletzt braucht es an beiden Brückenrampen sichere und leistungsfähige Querungsmöglichkeiten für Fußgänger und Radfahrer. Dass wir damit viel gewinnen, was Sicherheit und Kapazitäten betrifft, ist leider nicht zu erwarten.

Eine andere Variante wäre, die Brückenrampe auf der östlichen Blasewitzer Seite um vier Meter zu verbreitern, um die im Test reduzierte Autospur vor der Kreuzung zu erhalten und zusätzlich Platz für den Radverehr zu gewinnen. Das wäre teuer und langwierig, ganz zu schweigen vom Eingriff auf dem Platz.

Im Gespräch sind auch Tempo 20 oder eine separate Radverkehrsbrücke.

Ein reduziertes Tempo erhöht immer die Verkehrssicherheit. Wie sich das konkret am Blauen Wunder auf Sicherheit und Reisezeiten auswirken würde, wissen wir nicht. Wir können leider nicht davon ausgehen, dass sich alle an eine solche Regelung halten, könnte man aber mal testen.

Und für eine separate Radbrücke, die wahrscheinlich nur stromaufwärts denkbar wäre, müsste man vermutlich Privatrundstücke erwerben, den Hochwasserschutz beachten. Das wären lange und schwierige Planungen sowie eine teure Variante. Da wird die Verkehrsplanung abwägen, ob sie ihren Auftrag, eine verkehrssichere Radwegführung herzustellen, nicht billiger und mit weniger Aufwand erreichen kann. Wenn ein Anwohner gegen einen solchen Bau klagen würde, dann würde ein Gericht vermutlich genau diese Frage stellen.

Die perfekte Lösung wird es nicht geben, sondern nur Kompromisse. Und die bedeuten immer Einschnitte für einzelne Beteiligte, für andere wiederum eine bessere Situation.

Genau diese Einschnitte haben jetzt zum Abbruch des Versuches geführt. Wenn Dresden 2030 klimaneutral werden will, muss sich auch der Verkehr verändern. Wäre es nicht besser, das Blaue Wunder nur noch für Fußgänger, Radfahrer, den ÖPNV sowie Versorgungs- und Notarztfahrzeuge zu öffnen?

Im Moment geht es um sichere Radverbindungen. Das wäre ein echter Gewinn für die Verkehrssicherheit und den Klimaschutz. Dafür ist es überhaupt nicht nötig, den motorisierten Individualverkehr ganz von der Brücke zu verbannen und mir ist nicht bekannt, dass dies seitens der Verkehrsplanung ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Das mag bei anderen Brücken funktionieren. Mit Blick auf die Funktion des Blauen Wunders im Straßenverkehrsnetz ist das aus meiner Sicht im Moment keine realistische Option und würde den Zusammenhalt in der Stadtgesellschaft nicht gerade fördern.

Die Menschen müssen aktuell auf viele Veränderungen wie Klima- und Energiekrise oder Kriege reagieren. Mit der Gestaltung solcher Transformationsprozesse stehen wir als Gesellschaft vor großen Herausforderungen und niemand hat dafür einen Masterplan. Tatsächlich sind solche Tests wie der Verkehrsversuch - wir nennen das in der Forschung auch Reallabore - ein gute Möglichkeit, Veränderungen auszuprobieren, um auf der Basis des Gelernten gute Entscheidungen zu treffen.

Haben sich durch den Versuch die Fronten zwischen Auto- und Radfahrern weiter verhärtet?

Zunächst mal sollte jeder Autofahrer froh über jeden Radfahrer auf der Brücke sein, denn sonst würde der Radfahrer wahrscheinlich im Auto vor ihm stehen. Da die meisten von uns multimodal unterwegs sind, also sowohl Auto als auch Fahrradfahren und mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, dürfte es eigentlich nicht schwerfallen, die Perspektive des anderen einzunehmen.

Hier sind wir als Individuen und als Gemeinschaft gefordert. Vielleicht können Wissenschaft, Verwaltung und Medien dies gemeinsam fördern; wenn im Vorfeld noch mehr fachliche Erklärungen vorliegen, weshalb solche Versuche ein sinnvolles Instrument sein können, um zu lernen, wie wir unsere schöne Stadt zukunftsfähig gestalten.