Heimweh im Ferienlager: Hat die Corona-Pandemie das Problem verstärkt?

Waldrallye, Flirtdisko, Arschbombenwettbewerb, Lagerfeuer: Die Sommerferien sind gerettet. Zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie haben die Ferienlager in Sachsen wieder ohne Einschränkung geöffnet. Die Auswahl ist groß – Teeniecamp, Kochcamp, Reitcamp, Forscher- und Entdeckercamp – und die Nachfrage von Familien riesig. Doch mitten in dem Ferienspaß werden auch besorgte Stimmen laut.
So viel Heimweh wie nie
Bent Freiwald, der schon seit Jahren in seiner Freizeit als Ferienlager-Betreuer arbeitet, erklärt auf Twitter: „Noch nie hatte ich so viele Kinder zum Gespräch bei mir, weil sie Heimweh hatten, wie in diesem Jahr.“ Trotz aller Versuche hätten neun Kinder von ihren Eltern abgeholt werden müssen, einige bereits am zweiten oder dritten Tag. Ein neuer Rekord, so Freiwald. Rund 150 Kinder im Alter zwischen sieben und 16 Jahren waren im Sport-Zeltlager dabei.
Auch in einem Ferienlager im brandenburgischen Lauchhammer, direkt hinter der Landesgrenze, sei bei drei Kindern die Sehnsucht nach Zuhause übermächtig gewesen. Auch sie hätten sich nach nur wenigen Tagen von ihrer Familie abholen lassen, berichten andere Camp-Teilnehmer.
Bindung zu Eltern viel enger
Haben Kinder und Jugendliche während der Corona-Pandemie tatsächlich verlernt, fremde Menschen zu Freunden werden zu lassen? Sind sie es nicht mehr gewöhnt, sich auf neue Gruppen einzulassen? Diese Vermutungen äußert zumindest Bent Freiwald. Schließlich sei die Bindung zu den Eltern sehr viel enger geworden, da man monatelang gemeinsam zu Hause gehockt habe. Das verbinde ungemein.
In Sachsen haben Ferienlager auch während der Corona-Zeit stattgefunden. Allerdings waren die Gruppen kleiner, die Camps nicht voll belegt. Nicht wenige Eltern ließen ihre Kinder aus Angst vor einer Infektion in den vergangenen zwei Jahren doch lieber daheim.
Kinder fühlen sich überfordert
„Es ist möglich, dass sich Kinder durch die Zeiten der Isolation und den veränderten Alltag während der Pandemie jetzt schwertun, länger von zu Hause getrennt zu sein“, erklärt Cornelia Metge, Jugendlichenpsychotherapeutin aus Zschopau. Der Lockdown und das Homeschooling hätten das Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen beeinflusst. Viele würden sich unsicher und im Alltag überfordert fühlen, und könnten nicht mehr ohne die Eltern sein.
„Rauszugehen, neugierig zu sein, sich auf neue Sachen einzulassen, das alles hat etwas mit Verlässlichkeit zu tun. Aber in der Corona-Zeit gab es keine Verlässlichkeit. Kinder konnten das nicht lernen und sind in ihrer Entwicklung zurückgeworfen worden“, sagt Metge.
Viele bringen Freunde mit
Natürlich trifft das nicht pauschal auf alle Heranwachsenden zu. „Keine Spur von Heimweh“ hat zum Beispiel Thomas Lehmann bislang bei seinen jungen Feriengästen festgestellt. Er ist Geschäftsführer des Kiez Querxenland in Seifhennersdorf. Knapp 3.000 Kinder werden im Laufe der Sommerferienwochen dort betreut.
Sie lernen zum Beispiel im Anti-Stress-Camp, wie sie mit zu viel Hektik umgehen und dürfen sich im Blaulichtcamp mal wie ein echter Rettungssanitäter, Feuerwehrmann oder Polizist fühlen. „Wir beobachten das Gegenteil. Die Eltern fragen eher nach, warum sich die Kinder nicht bei ihnen melden“, sagt Lehmann. Viele der Kinder würden ohnehin eine Freundin oder einen Freund mitbringen. „Da fühlt sich dann niemand allein“, sagt er.
Camps schon für die Jüngsten
Ähnliche Erfahrungen hat Nicole Yücel gemacht. „Mein Gefühl ist, dass die Kinder in diesem Jahr so viel lachen wie lange nicht. Sie haben einfach Lust, draußen zu sein und neue Freunde zu finden“, sagt die Vorsitzende des Vereins Schullandheime im Landkreis Bautzen. Der veranstaltet in den Sommerferien knapp 50 verschiedene Camps, rund 900 Kinder sind bereits angemeldet. Die jüngsten sind gerade mal fünf Jahre alt. „Seit vier Jahren bieten wir ,Mein erstes Feriencamp‘ an, um die Kleinsten ein bisschen an Ferienlagerstimmung heranzuführen. Das läuft super“, sagt Yücel.
Heimweh trifft auch Ältere
Schullandheime gibt es überall in Sachsen, 15 sind im Landesverband organisiert. Hinzu kommen Jugendherbergen, Kieze und Häuser von Kirchgemeinden. Für viele Kinder ist so ein Camp der erste Moment im Leben, in dem sie bestimmte Dinge allein tun. „Heimweh zu bekommen, ist da auch ganz normal. Und das nicht nur bei den Jüngeren, sondern auch noch bei 12- und 13-Jährigen“, sagt Mirko Neumann.
Er ist seit 30 Jahren Betreuer im Kiez Grünheide. Dass der Nachwuchs in diesem Jahr besonders sehnsüchtig an zu Hause denkt, hat er bislang nicht beobachtet. Schon im vergangenen Jahr wären viele froh gewesen, raus zu kommen – und hätten sich gleich für diesen Sommer neu verabredet. Ähnlich sehe es im Sebnitzer Kiez aus, wie Mitarbeiterin Carina Marschner sagt. „Verstärktes Heimweh beobachten wir nicht.“
Handy ist keine gute Idee
Und wenn nun doch mal ein Kind sein Zuhause vermisst? „Das Geheimrezept ist Ablenkung“, sagt Mirko Neumann. „Wir versuchen dann, die Kinder zu beschäftigen. Denn wenn sie mit ihren Eltern telefonieren, wird das Heimweh meist noch stärker“, ist seine Erfahrung. „Ist jemand traurig, reden wir mit ihm und schauen auch, dass das nicht auf andere Kinder übergreift.“ Es sei wichtig, die Kinder zu ermutigen, die Herausforderung anzunehmen. Und noch etwas hat der Betreuer in den vergangenen Jahren gelernt: Handy macht Heimweh. „Wenn die Kinder keinen Empfang haben, sind sie traurig. Daher kann es besser sein, kein Handy dabeizuhaben."
Fester Tagesablauf hilft
Hilfreich ist zudem, die Aufmerksamkeit der Kinder auf das zu lenken, was am nächsten Tag passieren wird. „Routine oder ein fester Tagesablauf helfen. Kinder möchten wissen, was auf sie zukommt“, sagt Psychotherapeutin Metge.
Auch Bent Freiwald hat damit gute Erfahrungen gemacht. „Damit wir uns nicht falsch verstehen: Für die deutliche Mehrheit der 150 Kinder und Jugendlichen war Heimweh in den zwei Wochen überhaupt kein Thema“, sagt er. Dennoch ist er sicher: „Welche Folgen Corona für den Abkopplungsprozess von Kindern hat, ist heute noch gar nicht abzusehen.“
So klappt die Vorbereitung aufs Ferienlager
- Vorher üben: „Hilfreich ist es, wenn Kinder schon einiges selbstständig können. Eltern könnten zum Beispiel mit ihnen üben, wie man allein ein Bett bezieht“, sagt Cornelia Metge, Jugendlichenpsychotherapeutin aus Zschopau. Von Vorteil sei auch, wenn Kinder den Inhalt des eigenen Rucksacks und ihre Sachen kennen.
- Bestärken: Es kommt vor, dass die Trennung für Eltern schwieriger ist als für die Kinder. „Dann ist es wichtig, dass sie ihre eigenen Ängste nicht übertragen“, sagt Metge. Wenn sich die Kinder Sorgen machen, sollten die Eltern sie bestärken und ihnen das Gefühl vermitteln, dass Heimweh beziehungsweise Gedanken an zu Hause normal und auch richtig sind.
- Vertrautes hilft: Wenn die Umgebung fremd ist und die Kinder zum ersten Mal in einem Zelt oder auf einer Luftmatratze schlafen, ist es gut, wenn sie etwas Vertrautes von zu Hause dabei haben. „Das kann ein Kuscheltier oder ein Tuch sein, das nach der Mama duftet“, so Metge.
- Sicherheit geben: Bei manchen Camps sind Handys erlaubt, bei anderen nicht. Wichtig ist eine Notfallnummer, unter der sich Eltern jederzeit melden können. (kno)