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Warum Vorlesen auch heute noch zeitgemäß ist

Kinder, denen vorgelesen wird, sind schlauer und haben bessere Startchancen ins Leben, sagt der Chef der Stiftung Lesen. Er gibt sechs Buchtipps.

Von Susanne Plecher
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Vorlesen schafft Nähe und gemeinsame Zeit von Eltern und Kindern.
Vorlesen schafft Nähe und gemeinsame Zeit von Eltern und Kindern. © 123rf

Herr Maas, heute wachsen Kinder digital auf. Passt Vorlesen überhaupt noch in unsere Zeit?

Ich glaube, dass Vorlesen niemals aus der Zeit fallen wird, egal welche sonstigen Informationsquellen wir haben. Denn es geht dabei gar nicht so sehr darum, dass Menschen, die lesen können, kleineren Menschen, die nicht lesen können, eine Geschichte vorlesen. Man kann die Geschichte ja auch erzählen, auch anhand eines digitalen Formates. Wirklich wichtig ist, dass Vorlesen sogenannte Qualitätszeit ist. Vorlesen schafft vor allem Nähe und gemeinsame Zeit von Eltern und Kindern.

Inwieweit profitieren Kinder darüber hinaus, wenn ihnen vorgelesen wird?

Sie haben einen viel größeren Wortschatz. Und sie entwickeln viel mehr Empathie, weil sie durch verschiedene Geschichten und die Identifizierung mit den Charakteren in der Lage sind, sich in andere Menschen oder Situationen hineinzuversetzen. Sie haben eine bessere Auffassungsgabe, dadurch fällt es ihnen in der Schule leichter. Wir haben sogar feststellen können, dass Kinder, denen vorgelesen wurde, auch sportlich viel engagierter sind, sich mehr zutrauen. Weil sie ihrer Fantasie, ihren Möglichkeiten und Potenzialen freien Lauf lassen können. Lesen ist eine Superkraft. Kinder, denen vorgelesen wird, bringen bessere Voraussetzungen fürs Leben mit.

Dr. Jörg Maas ist Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen. Er studierte u.a. Philosophie, Germanistik und Wissenschaftstheorie.
Dr. Jörg Maas ist Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen. Er studierte u.a. Philosophie, Germanistik und Wissenschaftstheorie. © Stiftung Lesen

Das lässt sich so pauschal sagen?

Ja, das ist so, das zeigt unsere Vorlesestudie, , die wir jedes Jahr im Herbst herausgeben. Dafür haben wir Kinder gefragt, ob sie sich wünschen, dass die Erwachsenen ihnen regelmäßig vorlesen. 96 Prozent haben mit Ja geantwortet. Es gibt also kein Kind, dass nicht möchte, dass ihm vorgelesen wird. Deshalb die Bitte an die Eltern: Lesen Sie Kindern vor, egal in welcher Familiensprache. Das muss nicht in Deutsch oder mit einer perfekten Stimme sein. Die Beschäftigung, das Vorlesen oder Erzählen von Geschichten, nutzt den Kindern lange, bevor sie überhaupt in die Schule kommen.

Trotzdem lesen Eltern immer weniger vor. Wie erklären Sie sich das?

Wir haben dieses Jahr im Vorlesemonitor festgestellt, dass vier von zehn Eltern ihren Kindern nicht oder nicht regelmäßig vorlesen. Das hat verschiedene Gründe, zum Beispiel, dass beide Eltern berufstätig sind, sie wenig Zeit haben oder dass es andere Geschwister gibt oder die wirtschaftliche Not so dominant ist, dass die Eltern damit zu tun haben, die Familien durchzubringen. Aber ehrlich gesagt, glaube ich, dass jede Familie in der Lage ist, regelmäßig vorzulesen. Vielleicht nicht jeden, aber vielleicht jeden zweiten Tag und am Wochenende. Das Wichtigste ist, dass die Eltern als die engsten Vertrauten der Kinder Nähe zu ihnen schaffen, ihr Handy abschalten, Radio oder Fernseher ausmachen und sich mal eine Viertelstunde aufeinander konzentrieren. Das brauchen nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern. Ich kann nur appellieren: Macht es einfach! Verabredet euch, fangt an und überlegt nicht lange.

Was haben die Eltern davon – abgesehen von einem ruhigeren Gewissen?

Sie bekommen in dieser Zeit eine Menge mehr mit, als dass sie nur eine Geschichte vorlesen. Sie kommen mit den Kindern ins Gespräch über den Alltag, bekommen Informationen und Dinge mitgeteilt, für die sonst häufig viel zu wenig Zeit ist. Eltern profitieren aber auch von der emotionalen Nähe, die das gemeinsame Beschäftigen mit Büchern, mit Geschichten bietet. Wichtig beim Vorlesen ist ja auch, zu überlegen, welchen Bezug es zum eigenen Leben, zur eigenen Familie in dieser Geschichte gibt und den auch zu thematisieren. Wie ist das denn bei uns? Geht es uns gut? Gibt es etwas, das uns bedrückt?

Ab welchem Alter ist es sinnvoll, dem Kind vorzulesen?

Ich glaube, das Kind hat von Anfang an eine Menge davon, wenn ihm vorgelesen wird, wenn man mit ihm redet und ihm Sachen zeigt. Das ist häufig schon bei Babys der Fall. Kinder sind dafür nie zu jung. Viele Eltern hören damit auf, wenn die Kinder zur Schule gekommen sind. Aber das ist ein großer Fehler. Zwar wird Lesen in der Grundschule vermittelt, aber gerade in den ersten Jahren brauchen sie zusätzliche Anregungen und Hilfestellungen. Sich die Bücher gemeinsam mit den Eltern anzuschauen, macht das Lesenlernen viel erfolgreicher. Da gibt es wunderbare Bücher, die Erwachsene und Kinder abwechselnd lesen können. Das gemeinsame Lesen verändert sich, die Eltern lesen nicht nur vor, sondern lesen wechselweise oder gemeinsam mit den Kindern zusammen.

Können Hörbücher kompensieren, dass weniger vorgelesen wird?

Nein, aber sie können es wunderbar ergänzen. Wenn die Familie längere Zeit mit dem Auto unterwegs ist, finde ich Hörbücher toll. Da kann die ganze Familie zuhören, man bekommt eine Geschichte erzählt, kann seinen Gedanken nachhängen und tief in die Geschichte eintauchen. Gemeinsam mit der Deutschen Bahnstiftung haben wir das Projekt „Einfach vorlesen“ entwickelt, bei dem jede Woche immer freitagmittags Vorlesegeschichten frei Haus auf das Handy kommen. Das ist gedacht für die Familien, die keine Bücher zu Hause haben. Es gibt keinen Grund, den Kindern nicht mehr vorzulesen.

Viele Teenager, die mit Büchern aufgewachsen sind, lesen nicht mehr. Kommt das irgendwann wieder?

Das kommt wieder. Manche haben da eine Pause, aber Teenager entdecken die Welt, andere Menschen und sich selber neu. Sie sind mit der Beobachtung und der Wahrnehmung von anderen Dingen beschäftigt. Das ist vollkommen verständlich. Aber wenn das Thema des Buches stimmt, wenn es spannend genug ist, kommen sie alle wieder hin. Das war ja gerade der Erfolg der Harry-Potter-Bücher. Das Alter der Leser war ganz egal, weil die Bücher für jeden etwas dabei hatten: Bestimmte Charaktere, Spannung, es gab Fantasy und Abenteuer zu bestehen. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass kein Kind für das Lesen verloren geht, wenn es in den ersten Lebensjahren die Erfahrung gemacht hat, dass Lesen spannend ist und Spaß bereitet.

Diese Weihnachtsbücher empfiehlt die Stiftung Lesen für Kinder bis 8 Jahre

  • Ab 2 Jahre: „Guck mal, wer da ist! Weihnachten“. Dem Weihnachtsmann und seinen Wichteln einmal über die Schulter sehen und bei ihren Vorbereitungen dabei sein, können Kleine und Große mit diesem Pappbilderbuch. Mit spannenden Illustrationen und vielen Klappen. (Anna Milbourne, Emma Allen, Usborne, 14 Seiten, 10 Euro. ISBN: 978-1-78941-721-0.)
  • Ab 4 Jahre: „Die kleine Weihnachtseule“. Der Baum, in dem die kleine Eule lebt, soll als funkelnder Weihnachtsbaum in New York stehen. Eine abenteuerliche Reise beginnt. Die wahre Geschichte dieses Bilderbuches sorgt für einen Perspektivwechsel: Wie sehen Tiere das Fest der Liebe? (Ellen Kalish, G. Sterer, R. Kaulitzki, arsEdition, 40 S., 15 Euro, ISBN: 978-3-84584-798-6)
  • Ab 6 Jahre. „Wichtel Wolle rettet Weihnachten“. Der Chef macht Urlaub– und die Wichtel sollen die Geschenkeproduktion alleine managen. Aber sie wollen lieber Party feiern. Ist das Weihnachtsfest noch zu retten? Am Ende jedes Kapitels dieses Erstlesebuches gibt es einen Sticker. (A. Fabisch, M. Ben Arab, Ravensburger, 46 S., 8,99 Euro, ISBN: 978-3-473-46206-3)
  • Ab 8 Jahre: „Clarice Bean und die Weihnachtswichtel“In der Vorweihnachtszeit legt sich Clarice in diesem Kinderroman ins Zeug, damit das Fest ein Spektakel aus Geschenken und Frohsinn wird. Denn im Familienchaos plus Hund Zement und Opa droht der weihnachtliche Geist zu „entfleuchen“. (Lauren Child, Dragonfly, 240 S., 15 Euro, ISBN: 978-3-7488-0212-9)