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Fräulein Adeles Gespür fürs Reh

Die Jäger sind gefordert wie nie. Das Wild knabbert am neuen Wald. Deshalb sitzt eine Frau bei Pretzschendorf auf Posten, mit geladener Büchse und einer Spürnase.

Von Jörg Stock
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"Immer der Nase nach." Jacqueline Mette und ihre Münsterländer-Dame Adele sind bereit, um im Wald bei Pretzschendorf den Rehen aufzulauern.
"Immer der Nase nach." Jacqueline Mette und ihre Münsterländer-Dame Adele sind bereit, um im Wald bei Pretzschendorf den Rehen aufzulauern. © Karl-Ludwig Oberthür

Adele sagt: "Cool! Was geht denn jetzt los!" Sie sagt es mit einem Freudentanz, mit wedelnder Rute und fliegenden Schlappohren. Vornehme Zurückhaltung ist dem Rassehund Adele vom Winkellehen gerade schnurz. Das war zu erwarten. "Adele freut sich immer, wenn es in den Wald geht", sagt Jacqueline Mette, ihre Chefin. "Arbeiten ist für sie das Schönste."

Der Wald steht bei Pretzschendorf. Und er ist arg zerzaust. Auf der Anfahrt hat Jacqueline Mette vom Steuer ihres froschgrünen VW-Busses hinaus auf die kahlen Stellen gedeutet. Das war mal dunkler Fichtenforst.

Seit über zwanzig Jahren auf Pirsch

Jeder Sturm, jede Hitzewelle hat ein Stück davon aufgefressen. Und jetzt haben die Rehe Hunger, auf den neuen Wald, der aus den Brachen sprießt. Die Verjüngung zu schützen, ist ein Riesenthema, sagt Jacqueline. "Da muss man total hinterher sein."

"Zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle sein." Jacqueline Mette mit ihrer Hündin Adele auf dem Weg zum Hochsitz.
"Zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle sein." Jacqueline Mette mit ihrer Hündin Adele auf dem Weg zum Hochsitz. © Karl-Ludwig Oberthür

Jacqueline Mette ist 42 Jahre alt und selbstständige Hundetrainerin in Pretzschendorf. Und sie ist diplomierte Forst-Ingenieurin. Für den Pächter dieser gut einhundert Hektar Gemeindewald besorgt sie die Betriebsführung, plant die Holzernte, schreibt Fördergeldanträge, überwacht die Entwicklung der Schadflächen. Und weil sie seit über zwanzig Jahren Jägerin ist, tut sie das auch mit dem Gewehr.

Totalausfall für Förster: Bonsai-Bäume

Die Waldkrise fordert die Jägerschaft, vielleicht so stark, wie nie zuvor. Bis Ende 2021 waren laut Staatsbetrieb Sachsenforst etwa sechs Prozent der sächsischen Wälder kahl oder im Absterben begriffen. Nach dem neuerlichen Dürresommer dürfte der Anteil weiter gestiegen sein. Die schnelle Wiederbewaldung ist erklärtes Ziel der Staatsförster, muss aber auch von den nicht staatlichen Waldbesitzern geleistet werden, so will es das Gesetz.

Im Landkreis wurden zuletzt über 4.300 Rehe jährlich erlegt. Hier zeigt Kerstin Rödiger vom Forstbezirk Neustadt ein Exemplar aus diesem Winter.
Im Landkreis wurden zuletzt über 4.300 Rehe jährlich erlegt. Hier zeigt Kerstin Rödiger vom Forstbezirk Neustadt ein Exemplar aus diesem Winter. © Egbert Kamprath

Ob die jungen Bäume wachsen, hängt nicht nur von der Witterung ab. Auch vom Wildbestand. Ist er zu hoch, kommen die Neulinge nicht voran, weil ihre Triebe dauernd abgebissen werden. Jacqueline Mette erzählt von "Bonsai-Bäumen". Sie verzweigen sich stark, aber bleiben Zwerge. Für den Forstwirt eine verlorene Investition.

Die Kompottfresser aus dem Wald im Visier

Rehe sind für den Jungwuchs besonders heikel. Sie sind "Selektierer". Mancher spricht auch von Kompottfressern. Auf der Suche nach Zucker, Stärke und Proteinen knabbern sie mal hier, mal da, und besonders gern an den Zukunftsbäumen, an Weißtannen, an Eichen, an allem, was irgendwie exotisch schmeckt.

Vor dem Jagdausflug: Jacqueline Mette entspannt sich mit ihren Hunden Adele, Fee und Beethoven daheim auf dem Rundhof in Pretzschendorf.
Vor dem Jagdausflug: Jacqueline Mette entspannt sich mit ihren Hunden Adele, Fee und Beethoven daheim auf dem Rundhof in Pretzschendorf. © Karl-Ludwig Oberthür

Jacqueline Mette rüstet sich aus. Hund, Waffe, Munition, Gehörschutz. Und nicht zu vergessen: das Sitzpolster, eine Isomatte, eingearbeitet in ein Stück Cordstoff. Das hat die Oma für sie genäht, als sie junge Forststudentin war. Mit 21 hat Jacqueline Mette den Jagdschein gemacht. Sie war mal die jüngste Jägerin weit und breit. Das hat sich gewandelt. "Es gibt total viele junge Leute", sagt sie. "Auch Frauen."


Die Statistik des Landratsamts stützt diese Wahrnehmung. Die Jägerschaft im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge verjüngt sich. Während der letzten sechs Jahre sank der Altersschnitt von rund sechzig auf fünfzig. Und die Jäger werden immer mehr. Zählte die Behörde 2017 noch 1.143 Jagdscheininhaber, so stieg ihre Zahl bis Ende 2022 auf 1.422 an.

Die Waffen eines Keilers: Ein 120 Kilo schweres Tier läuft ihr vielleicht nie wieder vor die Büchse. Deshalb hat Jägerin Mette die Eckzähne in die Stube gehängt.
Die Waffen eines Keilers: Ein 120 Kilo schweres Tier läuft ihr vielleicht nie wieder vor die Büchse. Deshalb hat Jägerin Mette die Eckzähne in die Stube gehängt. © Karl-Ludwig Oberthür

An diesem Zuwachs mitgearbeitet hat Michael Hunger, Inhaber der Jagdschule Tharandt. Als er 2008 anfing, waren zwei, drei Leute pro Kurs normal. Inzwischen sind es mindestens acht. Es könnten, so schätzt er, künftig auch zwölf sein, das Maximum. Nur Corona hatte das zuletzt verhindert. Die drei Lehrgänge fürs Frühjahr sind jedenfalls ausgebucht.

Lust auf Natur und gesundes Fleisch

Das Grüne Abitur ist kein Schnäppchen. Michael Hunger nennt es ein Luxusprodukt. Die Ausbildung kostet bei ihm zurzeit 2.250 Euro. Dennoch sei es keineswegs so, dass da reihenweise die Zahnärzte und Rechtsanwälte in der Schulbank säßen. Das Publikum ist eine bunte Mischung aus Leuten, die fest im Leben stehen - Handwerker, Büroarbeiter, Computerspezialisten. Auch ein Schuljunge ist mal dabei, inspiriert vom waidwerkenden Vater.

Michael Hunger im Seminarraum seiner Tharandter Jagdschule. Der 52-jährige Forstmann spürt seit Jahren ein wachsendes Interesse am Waidwerk.
Michael Hunger im Seminarraum seiner Tharandter Jagdschule. Der 52-jährige Forstmann spürt seit Jahren ein wachsendes Interesse am Waidwerk. © Norbert Millauer

Bei den meisten geht die Motivation in Richtung Naturerlebnis und Auszeit vom Alltag. Viele schätzen das Wildfleisch als nachhaltig und gesund. Der Zeitgeist fördert die Jagd. Ob der Trend anhält? Michael Hunger macht das von der Wirtschaftslage abhängig, davon, ob sich die Leute seine Schule künftig noch leisten wollen. Preiswerter wird das Jagen wohl kaum. Allein bei der Munition hat Hunger Teuerungen von bis zu 50 Prozent beobachtet. Wenn es überhaupt welche gibt.

Im Schnüffel-Einsatz gegen die Schweinepest

Auch Jacqueline Mette ärgert der Munitionsmangel. Liegt es am Krieg? An gestörter Logistik? An Rohstoffknappheit? Man weiß nichts Genaues. Zum Glück hat sie noch Reserven. Die Traditionspatrone 8 mal 57, die "Königin des Waldes", lädt sie in ihre Allgäuer Repetierbüchse. Dann kehrt Stille ein auf dem tarnnetzumhängten Hochsitz. Die Rehe sind hier. Aber ob sie vorbeikommen? Es steht fifty-fifty, sagt die Jägerin. "So wie immer."

Abtauchen unters Tarnnetz: Der Hochsitz zwischen Pretzschendorf und Oberbobritzsch liegt gut versteckt an einer Lichtung.
Abtauchen unters Tarnnetz: Der Hochsitz zwischen Pretzschendorf und Oberbobritzsch liegt gut versteckt an einer Lichtung. © SZ/Jörg Stock

Die Kleine Münsterländerin Adele bleibt unterm Hochsitz hocken. Liegt Reh in der Luft, wird ihre Nase gespannt in diese Richtung zeigen und ihre Chefin kann die Schussabgabe vorbereiten. Jacqueline Mette verlässt sich lieber auf den Hund und ihre eigenen Sinne, als auf Ferngläser oder Wärmebildkameras. Das findet sie auch gerechter gegenüber dem Wild. Das Reh gehört hierher. Sie will es nicht ausrotten, sagt sie. "Nur den Zuwachs abschöpfen."

Jagen ohne Hund ist für Jacqueline Mette undenkbar. Es macht Laune, sagt sie, im Team erfolgreich zu sein. Zuletzt hat sie Adele und ihre Schwester Fee zu Kadaversuchhunden weiterbilden lassen. Seither stöbern alle drei in den Schweinepest-Bezirken Ostsachsens nach verendeten Wildschweinen und helfen so, die Seuche einzudämmen. Dutzende Funde haben sie schon gemacht, vom Einzelknochen bis zum ganzen Stück.

Im Kampf gegen die Schweinepest: Jacqueline Mettes Kleine Münsterländerin Fee auf Kadaversuche im Landkreis Görlitz.
Im Kampf gegen die Schweinepest: Jacqueline Mettes Kleine Münsterländerin Fee auf Kadaversuche im Landkreis Görlitz. © Hundeschule Mette

Nach einer Stunde Ansitz kriecht mehr und mehr Dämmerung zwischen die Stämme. Das Piepen der Meisen verebbt, das Rauschen des Windes aber schwillt an. So ein Wetter scheut das Wild. Wo die Tiere jetzt stecken, gibt es sicher auch Brombeerblätter zum Naschen, vermutet Jacqueline. "Die müssen nicht irgendwo hin." Also ziehen wir uns zurück. Diesmal ist das Glück aufseiten der Rehe. Und dort wird es bald auch für länger bleiben. Ab Februar ist Schonzeit.