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Sachsens einzige männliche Hebamme

Ein Entbindungspfleger erzählt, wie schön stressig es ist, junge Eltern zu begleiten und warum er meint, dass ein Mensch auch sterben darf.

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© Thomas Kretschel

Die Brücke zwischen Schwangerschaft und eigenständigem Leben ist eine sehr besondere Sache, vor allem, wenn eine Frau ihr erstes Kind zur Welt bringt. Trotz Schwangerenberatung und Geburtsvorbereitung ist das für die jungen Eltern absolutes Neuland. Ich finde es immer wieder schön, dabei sein zu dürfen.

Nach dem Abitur habe ich angefangen Jura zu studieren, aber das Studium abgebrochen und dann als Hilfspfleger im Krankenhaus in der Geburtshilfe gearbeitet. Mein Examen als Entbindungspfleger habe ich 1993 gemacht, und 1996 mit meiner Frau eine eigene Praxis eröffnet. Außerdem bin ich an der Bavaria Klinik in Kreischa in der Funktionsdiagnostik tätig. Dort betreue ich auch Schwangere, denen es nicht so gut geht oder Kinder, die keinen guten Start ins Leben hatten. In meiner Praxis in Dresden biete ich Geburtsvorbereitungskurse an und betreue die Wöchnerinnen zu Hause, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen wurden.

Entbindungen mache ich keine. Nur ein einziges Mal habe ich eine Hausgeburt betreut. Aber das war so nicht geplant. Eine Freundin von uns hatte mich gebeten, sie in die Klinik zu fahren, weil sie einen Blasensprung hatte. Aber das Kind, es war ihr zweites, war schneller. Es wollte unbedingt zu Hause zur Welt kommen, und so haben wir es gemacht. Es war eine schöne Geburt im Stehen. Wie aus dem Lehrbuch!

Die meisten Geburten dauern viele Stunden, das kann ich mit meinem Dienstplan im Krankenhaus, mit der Arbeit in der Praxis und in den Familien nicht vereinbaren. Denn ich betreue auch querschnittsgelähmte Schwangere und Mütter mit Multipler Sklerose. Außerdem arbeite ich mit sehr jungen Frauen, die in einem Jugendhaus leben und schwanger sind. Und ich fahre ehrenamtlich zweimal im Monat Rettungseinsätze. Das sind Termine, von denen ich wahrscheinlich nicht die Hälfte einhalten könnte, wenn ich auch noch Kindern auf die Welt helfen würde.

Wir leben in der Geburtenhauptstadt Dresden! Überall sieht man Kugelbäuche und Kinderwagen. Das ist gut so, und es ist ein Zeichen dafür, dass es gut läuft, dass wirtschaftliche Kraft da ist. Haben die jungen Leute Arbeit, leisten sie es sich auch, Kinder zu bekommen und warten nicht, bis der richtige Zeitpunkt kommt. Denn den gibt es nicht. Also muss man es einfach machen, bevor man zu alt dafür ist. Auch wenn so ein Dreieinhalbkilo-Erdferkel das ganze Leben auf den Kopf stellt. Ehrlich gesagt, könnte ich mir heute auch nicht mehr vorstellen, ein Baby zu haben. Mein Sohn ist 22, die Tochter zwölf. Ja, der Altersunterschied zwischen den beiden ist groß. Aber auch Hebammen werden nicht zum Wunschtermin schwanger, nur weil sie wissen, wie man ein Kind auf die Welt holt.

Die Kreißsäle sind in Dresden dermaßen ausgelastet, dass ich mit meinem Geburtsvorbereitungskurs kaum noch einen freien Termin im Krankenhaus bekomme. Den Frauen zeigen zu können, was sie erwartet, ist hilfreich. Sie können sich mal auf den Geburtshocker setzen oder die Wanne anfassen, in der sie vielleicht gebären möchten. Aber das geht eben nur, wenn der Kreißsaal frei ist.

Als ich meine Ausbildung gemacht habe, herrschte auf Entbindungsstationen Langeweile. Meine Kommilitonen haben in kleineren Krankenhäusern tagelang auf ihre praktische Prüfung gewartet. Ich hatte in der Uniklinik Glück. Drei Frauen wollten in meiner Prüfungsschicht entbinden. Das war vielleicht eine Herausforderung! Aber es hat gut geklappt. Diese praktische Prüfung war ein Meilenstein.

Überhaupt kommen in den großen Städten in Sachsen viele Kinder zur Welt. Auf dem Land sieht es schon anders aus. Einige meiner Kolleginnen, die aktive Geburtshilfe betreiben, schaffen es finanziell nicht. Allein die Berufsversicherung kostet über 8 000 Euro im Jahr. Das muss man erst mal erarbeiten, und da hat man noch kein Brot gekauft, keine Miete bezahlt. Für eine Praxis- oder Hausgeburt zahlen die Krankenkassen etwa 600 Euro, egal, wie lange das gedauert hat, egal, wie schwierig es war. Zum Glück haben wir einen engagierten Berufsverband, der sich für unsere Belange einsetzt.

Meine Arbeit macht mich immer glücklich, ich freu mich auf jedes nächste Kind. Auch in schwierigen Situationen denke ich nicht ans Aufhören. Nichtsdestotrotz kann so etwas kommen. Meine Frau ist seit drei Jahren krank und es ist nicht klar, ob sie wieder in unserem Beruf arbeiten kann. Wir haben uns immer gut ergänzt. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich im Gegensatz zu ihr keine alternativmedizinische Ausbildung, keinen Akupunkturlehrgang, keine homöopathische Ausbildung habe. Ich halte mich an die Schulmedizin und kenne keine Klinik in Dresden, die schlechte Geburtshilfe leistet. Ein Zeichen für die qualifizierte Arbeit ist die Tatsache, dass wir in Dresden deutschlandweit die wenigsten Kaiserschnitte haben. Natürlich kann es passieren, dass eine Hebamme oder ein Arzt einen miesen Tag haben. Für die Frauen, die das erleben, ist das natürlich schlimm. Aber vom Wissen und Können her sind die Mitarbeiter in den Kreißsälen in Dresden top.

Die Philosophie unserer Praxis ist: Wir wollen Hilfe geben zur Geburt, Wege zeigen, Möglichkeiten anbieten. Das bespreche ich mit den Frauen, die sich ja auch mit ihrem Gynäkologen beraten. Das ergänzt sich gut. Ich versuche den Frauen auch zu vermitteln, dass das Kreißsaalteam für die Gebärende da ist, nicht umgekehrt. Sie sollen selbstbewusst signalisieren: „Ihr Fachleute dürft mich bei der Geburt meines Kindes begleiten, das ist mein Angebot an euch“. Wenn das Team und die werdenden Eltern sich auf dieser Ebene treffen, dann läuft es. Aber wenn nur einer aus irgendeinem Grund schlecht drauf ist, bricht dieses idealisierte Gebäude zusammen.

Um Tag für Tag, Nacht für Nacht für andere da sein zu können, muss man seine Arbeit lieben. Bei mir klingelt ständig das Telefon. Das geht nicht anders, und es ist auch gut so, wenn die jungen Eltern ihre Probleme und Unsicherheiten nicht auf die lange Bank schieben. Ich denke nicht darüber nach, dass mir das zu viel werden könnte. Einfach machen! Klar, in dem Job muss man was aushalten können. Aber man muss auch kein Held sein. Ich kann nach der Arbeit einen Schnitt machen und abschalten.

Wenn ich allerdings nach dem Rettungsdienst mal nicht gleich zur Ruhe kommen kann und mir immer wieder dieselbe Situation, dasselbe Erlebnis durch den Kopf geht, dann wird es Zeit, anzuhalten. Ich bin kein Roboter. Dramatische Situationen, in denen wir zu kleinen Kindern gerufen werden, kann ich nicht einfach wegstecken. Diese Erlebnisse nehme ich allerdings mit nach Hause. Dort ziehe ich mich erst mal zurück. Meine Familie kennt das schon. Es ist wichtig, dass man nicht an der Sache zugrunde geht, an der man arbeitet. Auch will ich die Erlebnisse von Notfallsituationen nicht in die jungen Familien mitnehmen.

Wenn ein älterer Patient im Rettungswagen stirbt, dann ist das auch für uns furchtbar. Aber ich sage mir: Das Leben beginnt, und das Leben hat ein Ende. Ich fürchte mich nicht vor dem Tod. Er gehört zum Leben. Man muss ihn zulassen können. Wie das gehen soll, darüber wird in unserer Gesellschaft nicht gesprochen. Muss man einem alten, todkranken Menschen nach mehrfacher Reanimation noch die Maximalversorgung zuteilwerden lassen mit künstlicher Ernährung und künstlicher Beatmung?

Wenn ein Patient sich selbst nicht mehr äußern kann und keine Verfügung hat, folgen die Ärzte ihrem Berufsethos und den maximalen Ansprüchen der Angehörigen. Mitunter mag auch Geld eine Rolle spielen. Sicher, wir können alle möglichen Zugänge legen, wir haben Infusiomaten und können Medikamente perfekt dosiert zum optimalen Zeitpunkt verabreichen, ohne dass jedes Mal eine Schwester ans Bett des Patienten kommen muss. Wir können den Menschen immer länger am Leben erhalten. Aber ist das auch in jedem Fall indiziert? Ist es für den Patienten die richtige Entscheidung? Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin kein Freund der Sterbehilfe. Aber man muss darüber reden, und das passiert in Deutschland kaum.

Kommt ein Baby in der 20. Schwangerschaftswoche auf die Welt, dann ist es wie aus dem Nest gefallen. Man wird alles dafür tun, damit es überlebt. Trotzdem frage ich mich: Wo ist die Grenze? Je älter ich werde, desto schwerer fällt mir die Antwort. Mit der Entwicklung der Medizin hat sich die Ethik verschoben: Wir können es einfach nicht mehr zulassen zu sterben. In den Familien wird darüber nicht gesprochen. Zu Hause dürfen die wenigsten sterben, auch wenn viele das gern möchten. Gestorben wird hierzulande heimlich, still und leise, am besten nachts zwischen zwei und drei Uhr, damit der Leichenwagen das schöne Bild der jungen und sauberen Gesellschaft nicht stört. Das ist eine Schwierigkeit, mit der wir es zu tun haben, weil wir alle so gesund und aufrecht und leistungsstark sein wollen. Im Kreißsaal seinen Schmerz rausbrüllen? Hilfe, das kann man doch nicht machen! Kann man nicht? Ich versuche, den Frauen zu vermitteln: Sei einfach du, und wenn du Schmerzen hast und Angst, dann sag es.

Im Rettungswagen hatte ich übrigens noch nie eine Entbindung. Ich bin neidisch auf einen Chefarzt aus meiner Klinik. Er ist Internist, aber wie vielen Kindern der schon im Rettungsdienst auf die Welt geholfen hat, das ist echt unverschämt! Oder steht ihm das aufgrund seiner Position zu?

Ja, ich weiß, dieser Humor ist gewöhnungsbedürftig. Aber die meisten jungen Leute kommen damit zurecht. Sie dürfen ja auch kontern oder mir widersprechen. Man geht zwar nur einen kurzen Weg gemeinsam, aber das ist sehr intensiv. In der ersten Woche nach der Geburt bin ich jeden Tag in der Familie, später nach Bedarf. Freundschaften schließe ich dabei keine. Wenn das Familienbild stimmt, dann mache ich die Tür gern zum letzten Mal hinter mir zu. Ohnehin muss ich irgendwann loslassen. Manchmal fällt mir das schwer, manchmal nicht. Aber das lasse ich niemanden wissen.

Viele Männer sind fürsorglich, das ist eine neue Generation. Aber mancher hat zwei linke Hände, wenn Windeln zu wechseln sind. Mancher sagt, dass er sein Kind nicht hört. Wenn ich Probleme sehe, die das Baby gefährden könnten, biete ich den jungen Eltern weitere Hilfsmöglichkeiten an.

Übrigens organisiere ich auch Großelternabende. Zuerst sprechen wir über die Geburt. Dabei fließen häufig Tränen, weil manche Entbindungen, ich muss es so hart sagen, wie Vergewaltigungen waren. Die Omas und Opas staunen, was heute alles möglich ist. Sie erfahren, dass ein Baby nach Bedarf gestillt wird, dass es nicht immer eine Mütze aufsetzen muss und kein Federbett braucht. Diskussionen, in denen die Sätze mit „Aber früher ...“ beginnen, werden dann meist gar nicht erst geführt. Und wenn doch, dann dürfen die jungen Eltern ihren Oldies gern meine Telefonnummer geben.

Notiert von Birgit Grimm

In der Reihe „Ich & Wir“ erzählen Menschen aus Sachsen, wie sie die Brüche in der Gesellschaft erleben.