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Rauschlos glücklich: Der Siegeszug der alkoholfreien Destillate

Alkoholfreier Gin, Rum oder Aperol machen nicht nur Saftcocktails immer mehr Konkurrenz, sondern auch ihren hochprozentigen Vorbildern. Können die 0.0-Varianten geschmacklich mit den Originalen mithalten? Und was sagen Dresdens Barkeeper zu der Entwicklung?

Von Dominique Bielmeier
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Eine Barszene ohne einen Tropfen Alkohol: Barkeeper Norbert Ernst aus Dresden setzt beim Angebot seines Cocktail-Caterings gerne auch auf alkoholfreie Destillate, die voll im Trend liegen.
Eine Barszene ohne einen Tropfen Alkohol: Barkeeper Norbert Ernst aus Dresden setzt beim Angebot seines Cocktail-Caterings gerne auch auf alkoholfreie Destillate, die voll im Trend liegen. © SZ/Veit Hengst

Es ist der Zauber von Bars, dass in ihnen ganz gleich der Uhrzeit immer Abend herrscht. Die Sonderbar in Dresden, eine der ältesten Kneipen der Stadt, hat von diesem Zauber besonders viel abbekommen: Vertäfelungen aus dunkelbraunem Holz, mit schwarzem Leder bezogene Bänke und Hocker, im fahlen Licht hinter dem geschwungenen Tresen glänzende Flaschen. Ein Versprechen von alkoholgeschwängerten Abenden, lauten Gesprächen, zerrissenen Erinnerungen.

Trotz der Abendstimmung ist es an einem Freitagmorgen im Januar noch einige Stunden hin, bis dieses Versprechen eingelöst wird. Die Barhocker sind zum Wischen hochgestellt, alle Gläser sauber und Louis Armstrong singt leise aus den Lautsprechern wie für sich allein. Oder nicht ganz für sich allein, denn einen "Gast" gibt es: Barkeeper Norbert Ernst, der auf einer Bank ganz hinten Platz genommen hat, über ihm ein schmales Regal voller Bacardi-Flaschen, die von einer Messingstange vor dem Absturz bewahrt werden.

Gast, weil der Barkeeper in der Sonderbar nie selbst hinter dem Tresen steht. Stattdessen hat der 36-Jährige sich schon vor 18 Jahren auf Cocktail-Catering spezialisiert. Aber in der Szene kennt und schätzt man sich, und so darf "Nobbe", wie er meist genannt wird, an diesem Morgen nicht nur mit seinem Cocktailwissen hier glänzen, sondern sogar seine eigenen Drinks mitbringen: Neben dem Tisch steht ein Kasten mit Gin, Whiskey, Aperol und mehr.

Alkoholfreie Destillate seit ein paar Jahren im Kommen

Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass die Spirituosen gar keine sind: Auf manchen Etiketten steht die Angabe "0.0" und der vermeintliche Gin erklärt: "This is not Gin". "Alkoholfreie Spirituose" dürfe man das aber nicht nennen, erklärt Nobbe. Er spricht stattdessen von "alkoholfreien Destillaten".

Die ergänzen seit ein paar Jahren den Markt der inzwischen zahlreichen alkoholfreien Biere und Weine – und sind stark im Kommen. Immer mehr Spirituosenhersteller bieten inzwischen ein Alkoholfrei-Segment, hinzu kommen Start-ups mit eigenen 0.0-Varianten. Es gibt Tanqueray 0.0 oder Martini Floreale alkoholfrei, alkoholfreien Gin, Italian Bitter, Rum oder Whiskey von Undone aus Hamburg oder dem Marktriesen Lyre’s aus Großbritannien.

Die Alkoholfreien sollen dabei nicht nur aussehen wie ihre hochprozentigen Vorbilder, sondern möglichst ähnlich schmecken. Gelingt das überhaupt ohne den Geschmacksträger Alkohol? Ist es mehr als ein vorübergehender Trend? Und wie denken Barkeeper selbst darüber?

Norbert Ernst zählt zu denen in der Szene, die den Alkoholfrei-Trend, der über Saftcocktails weit hinausgeht, früh begrüßt haben. Er erklärt, dass die Destillate im Grundsatz nach zwei Verfahren hergestellt werden: Einmal entsteht ein normales Destillat, dem nachträglich der Alkohol entzogen wird. Nobbe sieht das etwas kritisch, denn "alles bis 0,5 Volumenprozent zählt in Deutschland als alkoholfrei" – für trockene Alkoholiker ist das nicht geeignet.

Wirklich 0.0 Prozent haben Produkte, in denen nie Alkohol war. "Alkoholfreier Gin ist da das beste Beispiel: Da wird durch eine Destille Wasser durchgebrannt, das dann vor oder während des Destillationsgangs mit den Aromen, also vorrangig Wacholder, versehen wird."

"Ein Old Fashioned funktioniert alkoholfrei nicht"

Wenn Nobbe als fliegender Barkeeper unterwegs ist – in der warmen Jahreszeit mit seinem zum Cocktailtaxi umgebauten Caddy und sogar einem Cocktailfahrrad – hat er von den meisten Drinks zwei Varianten im Angebot: Neben dem klassischen Aperol Spritz gibt es den alkoholfreien Schumann’s Aperol, den Gin Tonic gibt es mit und ohne Alkohol und so weiter.

"Ich habe mir vor zwei oder drei Jahren das Ziel gesetzt, meine Barkarten fast ausschließlich mit Drinks zu machen, die aufgrund der alkoholfreien Destillate in alkoholisch und alkoholfrei machbar sind", sagt Nobbe. Das liegt zum einen an der Nachfrage: Seit vier, fünf Jahren nähere sich der Schnitt der verkauften alkoholischen und alkoholfreien Drinks bei seinen Caterings immer mehr an.

Zum anderen freut es den Barkeeper, der selbst gerne alkoholfrei trinkt, wenn er Leute auf diese Varianten erst aufmerksam machen kann. Er erzählt von einer Stammgästin aus Löbtau, die bei ihm nach zwei, drei Whiskey Sour am Cocktailtaxi wissen wollte, ob er alkoholfrei wohl auch schmeckt. Bei nur drei Zutaten – Whiskey, Zitronensaft, Zucker – muss das Destillat selbst überzeugen. "Sie war mega begeistert", sagt Nobbe. Und habe nicht glauben können, wie nah der alkoholfreie Sour am Original ist.

Doch nicht alles könne man in einer alkoholfreien Variante darstellen, gibt Nobbe zu. "Zum Beispiel ein klassischer Old Fashioned, der funktioniert mit alkoholfreien Destillaten geschmacklich einfach gar nicht." Und natürlich fehlt immer der Geschmack des Alkohols selbst, "der auch auf der Zunge eine gewisse Wirkung erzeugt".

Mixology, das Magazin für Barkultur, fasst in einem Artikel vom Juni 2023 zusammen, was so ähnlich auch Norbert an diesem Morgen erklärt: "Man sollte ganz grundsätzlich nicht den Fehler machen, diese Destillate als Eins-zu-eins-Ersatz für Rum, Gin oder Wermut anzusehen oder gar für 'Alkohol ohne Alkohol' zu halten." Es seien alkoholfreie Annäherungen an die hochprozentigen Verwandten, die durchaus auch andere Aromen mitspielen ließen. Manchmal würden auch die Begriffe "Botanical Water", "Herbal Water" oder "Hydrosol" genannt.

Viskosität des Alkohols fehlt

Christian Hürtgen, der vor einem guten Jahr die Pinta-Cocktailbar im Dresdner Szeneviertel Neustadt übernommen hat, spricht lieber von "Hydrolaten". Mit einem solchen hat er, rund zwei Stunden bevor seine Bar öffnet, schon einmal die Eigenkreation "Zero out of Ten" gemixt, vereinfacht gesagt ein Gin Sour mit Brombeere: Ein dicker weißer Schaum, Espuma genannt, liegt über dem Tanqueray 0.0, es duftet nach Zitrone und Basilikum und der erste Schluck erinnert tatsächlich verblüffend an Alkohol.

Das liegt zum guten Teil am Schaum, erklärt Christian, denn bei solchen "Kräuterauszügen auf Wasserbasis" fehle einfach die Viskosität des Alkohols. "Dadurch, dass wir zusätzlich auch sehr filigrane Noten haben, müssen wir mit dem Produkt komplett anders arbeiten als mit einer Spirituose, die von sich aus schon den Geschmack nach vorne schiebt", sagt der Barkeeper. "Wenn ich das ohne Espuma ausgeben würde, dann wär das ein süßsauer balancierter Tee." Von Barkeepern erfordert das Mixen alkoholfreier Drinks also ganz besonderes Fingerspitzengefühl.

Christian Hürtgen betreibt die Cocktailbar Pinta in Dresden-Neustadt und setzt mit seinem Team auf kreative Eigenkreationen - die auch mal alkoholfrei sein dürfen.
Christian Hürtgen betreibt die Cocktailbar Pinta in Dresden-Neustadt und setzt mit seinem Team auf kreative Eigenkreationen - die auch mal alkoholfrei sein dürfen. © Foto: SZ/Veit Hengst

Obwohl die alkoholfreien Varianten auf der Karte deutlich in der Unterzahl sind, spricht der Bar-Chef nicht bloß von einem Trend. "Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass es etwas ist, das gekommen ist, um zu bleiben." Das Bewusstsein für gesündere Ernährung sei viel stärker geworden, und es gebe viele Menschen, die von vornherein keinen Alkohol tränken. Im Hintergrund der Bar singt Freddy Mercury "Don’t stop me now". An den Wänden werben leuchtende Schriftzüge zwischen künstlichem Grün für Tanqueray, Lillet, Campari oder Wild Turkey Bourbon, in einem Regal reihen sich Dutzende Mixology-Hefte aneinander. Wer kommt in die älteste Cocktailbar Dresdens, um hier alkoholfrei zu trinken?

Gesellschaftlicher Druck zu trinken ist etwas gesunken

Das sei ganz unterschiedlich, sagt Christian. Da gäbe es Männergruppen, in denen einer von fünf auf Alkohol verzichtet, weil er vielleicht früh rausmuss oder am Abend zuvor zu viel hatte, Frauengruppen, bei denen eine Schwangere dabei ist, oder Gäste, die den ganzen Januar auf Alkohol verzichten. "Die verstehen alle den 'Dry January' falsch", sagt Christian und grinst. "Dabei heißt das doch: trockene Martinis, trockene Gins..."

Spaß beiseite, früher seien diese Leute immer die Leidtragenden in der Runde gewesen, wenn es darum ging, ein Getränk zu bestellen. Heute wird man nicht gleich als Nichttrinker geoutet und hat auch noch einen richtigen Drink in der Hand.

Der gesellschaftliche Druck, sich für den Alkoholverzicht rechtfertigen zu müssen, habe glücklicherweise etwas nachgelassen, hat Nobbe beobachtet. Zwischen Männern und Frauen könne er bei seinem Cocktail-Catering keinen Unterschied erkennen, aber vom Alter her ließe sich gut eingrenzen, wer alkoholfrei bestellt: "Es sind die zwischen 30- und 45-Jährigen, die ganz gezielt danach fragen." Die sind vielleicht schon etwas in der Welt herumgekommen und kennen alkoholfreie Destillate aus Hotelbars oder Duty-free-Shops. Die Jüngeren, ab 18, gingen heute übrigens viel verantwortungsbewusster mit dem Thema Drogenkonsum um.

Christian Hürtgen bestätigt diesen Eindruck, aber erweitert die Altersspanne: "Ich würde sagen, alles, was jünger ist als Norbert und ich." In seiner Jugend habe man noch gesoffen, was das Zeug hält, sagt der 40-Jährige. Wie Nobbe habe er auch schon einige Kollegen abstürzen sehen. "Wenn du direkt an der Quelle sitzt, passiert das dem ein oder anderen sehr häufig." Er selbst nimmt deshalb ganz bewusst oft das Auto, um zum Beispiel Einladungen von Gästen ausschlagen zu können.

Die Barszene insgesamt habe sich inzwischen verändert, sagt Christian, das Gastgebertum – aber auch die Erwartungen der Gäste. "Man ist nicht mehr nur noch der Typ, der mir mal eben das Getränk macht und mich und meine Freunde durch den Abend begleitet", sagt der Barkeeper. "Klar, wir verkaufen am Ende nur Drinks, aber wir versuchen immer auch Erfahrungen und Erlebnisse zu verkaufen."

Es gibt in der Pinta Cocktails, die in kleinen Badewannen serviert werden, in einer echten Popcorntüte oder in einer mit Rauch gefüllten Schatztruhe. Manchmal steht der Chef dann heimlich in einer Ecke und wartet gespannt auf die Reaktionen der Gäste, wenn sie die Truhen öffnen. Er lächelt. "Das macht schon Spaß."

"Der Drink muss rausgehen, als wäre er das Highlight des Abends"

Dieser Anspruch hört bei den alkoholfreien Varianten nicht auf. "Egal, was der Drink ist, egal, ob mit oder ohne Alkohol: Er muss rausgehen, als wäre das das Highlight des Abends." Immerhin zahlen die Gäste dafür auch im Schnitt zwölf bis knapp 13 Euro. Die alkoholfreien Varianten in der Pinta sind mit knapp elf Euro nur etwas günstiger. Ein Preis, der aber mehr als gerechtfertigt sei, berücksichtigt man, dass die Produktion der alkoholfreien Varianten weitaus teurer ist als beim normalen Destillat.

Nobbe bestätigt das: "Der alkoholfreie Aperol von Lyre's kostet mich das Dreifache." Deshalb müsste er für seinen alkoholfreien Schumann's Aperol eigentlich zwei bis drei Euro mehr verlangen als für das Original. Das könne man den Gästen aber nicht so leicht vermitteln.

Wird der Alkoholfrei-Markt die Spirituosen irgendwann sogar überholen? Die Barkeeper glauben nicht daran. "Aber ich gehe schon davon aus, dass diese Blase noch ein ganzes Stück aufgepustet wird", sagt Nobbe. "Dann werden vielleicht auch kleinere regionale Hersteller mit aufspringen." Er selbst will auch ein wenig mitpusten: Er hat sich eine kleine Destille gekauft, um bald seinen eigenen alkoholfreien Gin zu produzieren.

Gurkenluft über alkoholfreiem Martini und mehr: eine neue Eigenkreation aus der Pinta-Cocktailbar in Dresden, die bald auf die neue Karte kommt.
Gurkenluft über alkoholfreiem Martini und mehr: eine neue Eigenkreation aus der Pinta-Cocktailbar in Dresden, die bald auf die neue Karte kommt. © SZ/Veit Hengst

In der Pinta-Bar stehen die ersten Gäste vor der geschlossenen Tür. Der Chef macht kurz auf: "In 'ner halben Stunde, ihr Lieben, in 'ner halben Stunde!" Erst setzt er noch eine "Gurkenluft" an: ein Gurkensirup mit Wasser und einem Lecithin, der mittels Aquariumpumpe zu einem Badewasserschaum geblubbert wird. Dieser schwebt dann neben einer "Kokosluft" über einem alkoholfreien Cocktail, den das Team erst am Vorabend entwickelt hat: Martini Floreale alkoholfrei, Aprikosentee, Jasminsirup, Superjuice, fast alles hausgemacht. Einen Namen hat er noch nicht, aber er schmeckt wie der Frühling.