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Mit Selbstmordgedanken in der Schule zusammengebrochen

Eine Neuntklässlerin aus Dresden wird gerettet. Doch ein neues Angebot für Sachsens Schulen hätte ihr noch eher helfen können.

Von Susanne Plecher
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Typisch für eine  Depression bei Jugendlichen ist, dass sie sich zurückziehen, niedergeschlagen und antriebslos wirken.
Typisch für eine Depression bei Jugendlichen ist, dass sie sich zurückziehen, niedergeschlagen und antriebslos wirken. © dpa/ Fabian Sommer

Sie habe sich selbst nicht mehr gemocht, sich nicht wahrgenommen gefühlt. Unzureichend. Zu dick. Sie fing an, sich zu ritzen, damit die körperlichen Schmerzen die seelischen überdecken. „Das ist in Selbsthass ausgeartet. Sie hat das Leben als Last und nicht mehr als lebenswert empfunden“, sagt Norman Albrecht. Die Erschütterung darüber ist ihm noch immer anzuhören. Wir haben seinen Namen geändert, um Rückschlüsse auf die Schülerin auszuschließen.

Albrecht ist Physik- und Informatiklehrer an einem Dresdner Gymnasium. Dort leitet der junge Mann auch eine neunte Klasse. Eine seiner Schülerinnen war so depressiv, dass sie sogar über Selbstmord nachgedacht habe. Als es an einem Schulvormittag im Herbst besonders schlimm wurde, suchten ihre Freundinnen aufgelöst seine Hilfe. Albrecht verließ die Klasse, versuchte in Absprache mit dem Schulleiter, das Mädchen aufzufangen, redete ihr lange zu. Schließlich habe sie sich von den Eltern abholen lassen, die eine psychologische Betreuung für sie organisierten.

Dass Schüler hin und wieder traurig und niedergeschlagen wirken, begegnet ihm zuweilen. „Aber in dieser gravierenden und schwerwiegenden Form habe ich das noch nicht erlebt“, sagt Albrecht.

Zwei Schüler pro Klasse sind depressiv

Ein Einzelfall ist das Mädchen keineswegs. Aktuelle Studien zeigen, dass pro Schulklasse im Schnitt ein bis zwei Schülerinnen und Schüler an einer behandlungsbedürftigen Depression erkrankt sind. Es werden mehr. In Sachsen ist der Anteil der Jugendlichen mit Depressionsdiagnose von 2018 bis 2021 um 19 Prozent gestiegen. 15 von 1.000 Jugendlichen leiden darunter, wie Hochrechnungen der Krankenkasse Barmer zeigen.

Es sind meist mehrere Faktoren, die dazu führen, dass die Psyche erkrankt. Sie reichen von einer Veranlagung bis hin zu aktuellen Auslösern wie familiären Problemen oder Ängsten. Jungen Menschen setzen die multiplen Krisen der vergangenen Jahre besonders zu. So haben laut der Barmer-Jugendstudie 53 Prozent Angst vor Krieg, 47 Prozent vor dem Klimawandel. Bei manchen sei diese Sorge so groß, dass sie sie antriebs- und mutlos mache, hatten Jugendliche in Fragebögen geschildert.

„Das Thema Depression muss auch in der Schule aus der Tabuzone“, sagt Anett Wagner. Sie ist Referentin für Prävention und Selbsthilfe bei der Barmer in Sachsen. „Uns ist es wichtig, frühzeitig anzusetzen, Wissen zu vermitteln und Verständnis zu schaffen. Das kommt oft zu kurz.“ Depressionen hätten häufig einen langjährigen Vorlauf. Würden Warnsignale frühzeitig erkannt, könne mit Hilfsangeboten gegengesteuert oder der Umgang mit der Erkrankung gelernt werden. Damit ließe sich viel Leid verhindern.

„Das Thema Depression muss auch in der Schule aus der Tabuzone“, sagt Anett Wagner. Sie ist Referentin für Prävention und Selbsthilfe bei der Barmer in Sachsen. „Uns ist es wichtig, frühzeitig anzusetzen, Wissen zu vermitteln und Verständnis zu schaffen. Das kommt oft zu kurz.“ Depressionen hätten häufig einen langjährigen Vorlauf. Würden Warnsignale frühzeitig erkannt, könne mit Hilfsangeboten gegengesteuert oder der Umgang mit der Erkrankung gelernt werden. Damit ließe sich viel Leid verhindern.

Schon kleine Dinge können helfen

Die Schritte dahin müssen nicht immer riesig sein. Um Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken, reichen mitunter schon einfache Materialien wie Flyer und Plakate, wenn sie schlau platziert sind. Solche hat Fideo, das Jugendprojekt des Diskussionsforums Depression e.V. mit Sitz in Leipzig, gestaltet.

Fideo bietet seit vielen Jahren ein Online-Selbsthilfeforum für Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren an. Die dazugehörige Plattform informiert über Depression und baut Vorurteile ab. Seit 2013 hat die Barmer sie mit mehr als 600.000 Euro unterstützt.

„Jetzt haben wir ein neues Projekt“, sagt Julia Ebhardt von Fideo. Es ist eine Schulbox, eine Art Werkzeugkoffer für Lehrer und Schulsozialarbeiter. Enthalten sind darin Flyer, Broschüren, Aufkleber und Plakate, die es ermöglichen, im Unterricht ab der siebenten Klasse fundiert über die Depression zu sprechen. Welche Symptome hat sie? Was kann ich machen, wenn ich dieses Anzeichen bei meiner Freundin oder dem Banknachbarn erkenne? Welche Hilfsangebote gibt es für Jugendliche, die selbst vermuten, erkrankt zu sein?

Mit Plakaten gegen Depression bei Jugendlichen: So sieht die Schulbox Depression der Barmer und der Stiftung Deutsche Depressionshilfe aus.
Mit Plakaten gegen Depression bei Jugendlichen: So sieht die Schulbox Depression der Barmer und der Stiftung Deutsche Depressionshilfe aus. © Julia Ebhardt/ Fideo

„Wir wollen mit den Materialien die Hemmschwelle reduzieren und den Jugendlichen Mut machen, ihre Probleme anzusprechen“, sagt Julia Ebhardt. Denn bei einem Verdacht würden die sich zuerst der Freundin oder der Schulsozialarbeiterin anvertrauen, aber nicht selbst zum Arzt gehen. Kann sich ein Schüler oder eine Schülerin niemandem öffnen, helfen die Materialien trotzdem weiter. „Auf unseren Plakaten gibt es einen QR-Code, der sofort auf eine Seite mit Hilfsangeboten verweist“, sagt die Psychotherapeutin.

Die ersten dieser Nothilfekoffer haben die Fideo-Mitarbeiter Mitte November 2023 gepackt. Inzwischen sind bereits mehr als 500 deutschlandweit verschickt worden, die meisten davon in Sachsen. Mit einer solchen Resonanz hatte Julia Ebhardt nicht gerechnet. „Wir sind überrannt worden“, sagt sie. Manche Schulen haben diese Plakate an Toilettentüren aufgehängt. So muss sich die hilfesuchende Person im Zweifelsfall nicht rechtfertigen, wenn sie mit dem Handy den QR-Code einscannt.

Eine gute Idee, findet auch Lehrer Albrecht. Vielleicht hätte seine Schülerin sich mit einem solch niederschwelligen Angebot schneller Hilfe geholt. „Sich jemandem mitzuteilen, ist sehr persönlich und intim. Anonym geht das sicher am besten.“

Depressionen bei Jugendlichen sind schwer zu erkennen

Depressionen zu erkennen, ist schwierig, vor allem während der Stimmungsschwankungen der Pubertät. Doch zieht sich der Sohn ständig in sein abgedunkeltes Zimmer zurück, reagiert die Tochter dauerhaft gereizt oder gibt es nur noch Zoff zwischen den Geschwistern, können das Anzeichen sein. Oft geht eine Depression mit anderen psychischen Erkrankungen wie ADHS, Angst- oder Essstörungen einher.

„Typisch ist, dass es den Kindern schwerfällt, sich zu konzentrieren oder etwas mit den Freunden zu unternehmen“, sagt Julia Ebhardt. „Sie fühlen, dass irgendwas anders ist, können das aber nicht benennen.“ Halten Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit mehr als zwei Wochen an, sollten Eltern aufmerksam werden.

Echtes Interesse und Leitplanken machen Kinder stark

Wollen Eltern ihre Kinder stärken, sollten sie sie in erster Linie so akzeptieren, wie sie sind. „Sie können die Kinder in ihrem Weg unterstützen, Interesse an den Dingen zeigen, mit denen sie sich beschäftigen – auch wenn die uns Erwachsene vielleicht mal nicht so ansprechen. Es ist wichtig, Nachfragen zu stellen, die Kinder zu begleiten und ihnen auch Leitplanken zu geben“, sagt Ebhardt.

Das sei eine große Herausforderung. Nicht zu unterschätzen sei die Vorbildwirkung – vor allem auch dann, wenn man selbst mal einen schlechten Tag hat oder es einem etwas länger nicht so gut geht. „Eltern müssen nicht glauben, dass sie immer stark sein und alles bewältigen können müssen“, ermutigt die Psychotherapeutin.

Weitere Anlaufstellen für Jugendliche und Angehörige:

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Schon Kindergartenkinder können depressiv sein

Doch leichte depressive Verstimmungen bis hin zu schweren Störungen gehören laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention zu den häufigsten psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Schon im Vorschulalter erkrankt etwa ein Prozent daran, in der Grundschule sind es etwa zwei Prozent. Von den Jugendlichen zwischen zwölf und 17 Jahren seien aktuell zwischen drei und zehn Prozent betroffen.

Anett Wagner: „Gesunde Kinder mit gesunder Psyche und einem guten Miteinander sind am besten in der Lage, Lernstoff aufzunehmen und Freude zu haben am Leben. Darauf kommt es an.“

Das sieht auch Lehrer Albrecht so. „Eigentlich haben wir im Unterricht keine Zeit. Aber manchmal ist es wichtiger, auf solche Dinge einzugehen, als ein physikalisches Gesetz zu behandeln“, sagt er. Seiner Schülerin geht es inzwischen wieder besser. Sie ist nicht mehr in Betreuung. Ihr Zustand sei stabil.