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Wie eine 13-jährige Dresdnerin in die Crystal-Sucht rutschte

Emilia besucht in Dresden das Gymnasium, ihre Noten sind durchschnittlich, aber nicht schlecht. Eines Tages machen Freunde sie mit einem Mann bekannt. Der Anfang einer schwierigen Zeit - für sie und ihre Familie.

Von Sandro Pohl-Rahrisch
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Ein Bild, das Julia Richter nicht vergessen kann: ihre Tochter, ihre beste Freundin und eine Crystal-Line.
Ein Bild, das Julia Richter nicht vergessen kann: ihre Tochter, ihre beste Freundin und eine Crystal-Line. ©  Symbolfoto: Claudia Hübschmann

Dresden. Die Zweifel waren längst ausgeräumt. Was an diesem Foto hätte Julia Richter auch missverstehen sollen. Tochter Emilia*, ihre Freundin, eine Crystal-Line. Emilia, damals 13 alt. Die Mädchen schieben die Kristallbröckchen in Reih und Glied. "Teile den Moment", bewirbt der Nachrichtendienst Snapchat seine App. Emilia hat den Moment geteilt, mit ihrer Mutter, ungewollt natürlich. Julia Richter greift zum Telefon, leitet das Foto an ihre Tochter weiter und stellt sie zur Rede. Das Mädchen leugnet nicht, widerspricht nicht, rechtfertigt sich nicht. "Ja, Mama, ich habe Crystal genommen."

Vier Monate ist das her. Stück für Stück hat die Mutter in dieser Zeit erfahren, wie aus Neugier eine Sucht wurde. "Sie sagte, dass sie im August 2022 das erste Mal Crystal nahm - erst ein Mal im Monat, dann mehrmals täglich, später auch andere chemische Substanzen, deren Abkürzungen ich gar nicht mehr zusammenkriege", erzählt die 39-jährige Dresdnerin. "Ich hatte schon vor diesem Tag im Februar das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Es war schwierig, Zugang zu ihr zu finden, die Noten wurden schlechter, sie änderte ihren Kleidungsstil. Sie war traurig und konnte nicht sagen, warum." Julia Richter schiebt es damals auf die Pubertät. Nie hätte sie an Drogen gedacht. "Ich habe mit zwölf Jahren noch mit Puppen gespielt."

Crystal-Dealer versorgte Minderjährige

Und immer wieder stellt sich die Mutter die Frage: Wie ist Emilia an die Drogen gekommen? Warum hat sie überhaupt damit angefangen? Fühlte sie sich von ihrer Familie unter Druck gesetzt, weil sie weiterhin das Gymnasium besuchen sollte? Hätte sie früher dahinterkommen müssen?

Die Drogen hat Emilia von einem Mann um die 50 in Prohlis, erzählt Julia Richter, die im nicht weit entfernten Stadtteil Seidnitz/Dobritz lebt. Freunde hätten sie zu ihm geführt. "Der Mann lädt die Teenager zu sich ein, verköstigt sie, gibt ihnen Alkohol und Drogen." Er schreibt ihrer Tochter sogar Schulbefreiungen, gibt sich als "Papa" aus. Selbst will Emilia gegenüber Sächsische.de nicht von ihren Erfahrungen berichten, überlässt dies ihrer Mutter.

Das Mädchen fehlt damals im Unterricht, ist plötzlich versetzungsgefährdet. Die Droge Crystal, die dafür bekannt ist, den Körper in kürzester Zeit herunterzuwirtschaften, hinterlässt auch bei Emilia Spuren. Ihre Haut ist von Akne gezeichnet, das Immunsystem angegriffen - eine Erkältung löst die andere ab.

Die Frage nach dem Warum kann die Mutter nicht allein ergründen. "Noch am Tag, als ich von den Drogen erfahren habe, bin ich aktiv geworden. Mein erster Impuls war, sie am nächsten Tag in eine Klinik zu bringen." Von der inzwischen 14-Jährigen kommt kein Widerspruch. Sie gesteht sich ein, nicht allein vom Crystal wegzukommen. "Sie sagte: Ich brauche Hilfe." Bei der Suchtberatung jemanden ans Telefon zu bekommen, sei unheimlich schwierig gewesen. Die Suchtberatungsstellen hätten der Mutter wiederum erzählt, dass sie sich nur um Erwachsene kümmern würden. Professionelle Hilfe erhält die Familie schließlich in der Suchtambulanz für Kinder und Jugendliche am Dresdner Uniklinikum.

Mutter Julia Richter hat in den vergangenen Wochen professionelle Hilfe in der Kinder- und Jugendpsychiatrie von Professor Veit Roessner gefunden. Ihre Tochter ist abhängig von Crystal.
Mutter Julia Richter hat in den vergangenen Wochen professionelle Hilfe in der Kinder- und Jugendpsychiatrie von Professor Veit Roessner gefunden. Ihre Tochter ist abhängig von Crystal. © Sven Ellger

Professor Veit Roessner, Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie, erzählt, dass Drogenkonsum in Emilias Alter keine Ausnahme mehr sei. Umso wichtiger war die Einrichtung der Spezialambulanz 2018 im Rahmen einer Förderung durch das sächsische Wissenschaftsministerium. Ein Angebot nicht nur für suchterkrankte Minderjährige, sondern auch deren Angehörige, um die Gründe für die Abhängigkeit herauszufinden, die Patienten zu therapieren und das Risiko eines Rückfalls zu verringern.

Bis dahin standen Suchterkrankten und ihren Familien lediglich die Beratungsstellen zur Seite. Doch gerade Beratungsstellen stellten nur selten eine umfassende Diagnostik an und fragten ausreichend nach den Faktoren, die zum Drogenkonsum geführt haben, so Roessner.

Emilia muss nicht entwöhnt werden, sie ist bereits einige Wochen von der Droge weg, als sie sich auf die mehrwöchige Therapie einlässt - Fragebögen ausfüllen, Einzelgespräche, Gruppengespräche, Konzentrationstests, Leistungstests, Drogenscreenings. Keine Konfrontation, keine Verurteilung, sondern echtes Interesse. Das Wichtigste jedoch sei, dass die Patienten das Gefühl haben, dass ihnen jemand zuhört und ihre Gedankengänge nachvollziehen kann, so Roessner.

"Die Angst ist da, dass sie einen Rückfall erleiden könnte"

Emilia erzählt, dass sie runter möchte vom Gymnasium, sich dort überfordert fühle. Etwas, was sie bereits früher einmal geäußert hat, nur dass ihre Lehrer und schließlich auch die Mutter keinen Anlass für einen Wechsel sahen, die Noten waren für die Lehrer noch nicht bedenklich. Die Corona-Zeit mit all ihren Entbehrungen hat das Gefühlsleben des Teenagers zusätzlich durcheinandergebracht. Crystal war ihr Stimmungsaufheller und unterdrückte die Ängste vor der Schule.

Um einen Rückfall zu verhindern, müsse ein geeigneter Rahmen geschaffen werden, erklärt Roessner den Therapieansatz. In diesem würde dann an der Motivation gearbeitet, unterschiedlichste Veränderungen vorzunehmen. Den Freundeskreis zu wechseln, mit dem man zusammen Drogen konsumiert hat, sei dabei die schwierigste Aufgabe, aber sehr wirkungsvoll. Ein Schulwechsel wird dem Mädchen ebenso empfohlen, um das Gefühl der Überforderung zu ändern. Inzwischen besucht Emilia eine Oberschule. Kontrolle ist ebenfalls ein wichtiges Instrument. So muss die 14-Jährige während der Behandlung Urinproben abgeben, um ihre Abstinenz nachzuweisen.

Mittlerweile ist die Therapie abgeschlossen und Emilia abstinent. Zumindest hofft das ihre Mutter. "Die Angst ist immer da, dass sie einen Rückfall erleiden könnte", sagt Julia Richter. "Woher weiß ich denn, dass sie mir nicht nur das sagt, was ich hören will?" Die Dresdnerin habe zwar Drogentests zu Hause. Eingesetzt habe sie diese bislang jedoch nicht.

Pro Jahr sind in der Spezialambulanz mehr als 100 junge Patientinnen und Patienten versorgt worden. Emilia und ihre Familie gehörten zu den letzten Patienten der Kinder-Suchtambulanz. Seit dem Frühjahr ist sie offiziell geschlossen. Die Förderung wurde eingestellt. Damit hat sich auch deren Leiterin, die renommierte Kinderpsychiaterin Yulia Golub, vom Uniklinikum verabschiedet und arbeitet nun am Oldenburger Uniklinikum.

Professor Veit Roessner bedauert dies außerordentlich, insbesondere für Kinder und Jugendliche in Ostsachsen, die jetzt ein Suchtproblem bekommen. Für sie fehlt dieser wichtige, spezialisierte Anlaufpunkt. Die Chancen, dass die Ambulanz ohne zusätzliche Förderung wieder aufgemacht wird, seien sehr schlecht, die Wartelisten für die einzigen, in Sachsen verbliebenen spezialisierten Therapieplätze für Kinder und Jugendliche mit Suchtproblemen in Leipzig dagegen endlos lang. Und andernorts in Sachsen gibt es kein spezialisiertes Angebot.

Julia Richter hofft, dass ihre Tochter endgültig weg ist von Crystal, weg von Drogen. Sie ist entsetzt, dass keiner etwas unternimmt, um für Kinder und Jugendliche in Ostsachsen wieder ein Angebot solcher Qualität zu schaffen. "Ich wünsche mir, dass sie wieder Interesse und Freude verspürt und irgendwann auch einen Berufswunsch hat und sich diesen erfüllt."

*Emilia trägt einen anderen Namen. Um die neue Schullaufbahn nicht zu gefährden, haben wir ihn auf Wunsch der Familie geändert, ebenso den Namen der Mutter.