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Herrnhuts große Zahnarzt-Lücke

Zwei Medizinerinnen haben ihre Praxen und damit ihr Lebenswerk geschlossen - ohne Nachfolger. Es ist nicht der erste derartige Fall. Eine Unterversorgung droht.

Von Anja Beutler
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Die Herrnhuter Zahnärztinnen Ingrid Gleisberg (links) und Angelika Matjeka sind zum April zeitgleich in den Ruhestand gegangen - leider ohne Nachfolger.
Die Herrnhuter Zahnärztinnen Ingrid Gleisberg (links) und Angelika Matjeka sind zum April zeitgleich in den Ruhestand gegangen - leider ohne Nachfolger. © Rafael Sampedro/foto-sampedro.de

Mit dem 1. April hat Herrnhut zwei Zahnärztinnen weniger: Ingrid Gleisberg und Angelika Matjeka haben beide zeitgleich ihren Ruhestand angetreten. Das heißt für viele Patienten aus Herrnhut und dem Umland, dass sie sich einen neuen Arzt suchen müssen. Denn einen Nachfolger hat weder die eine noch die andere Praxis gefunden. Noch vor fünf Jahren gab es in der Stadt fünf Zahnärzte, nun sind es nur noch zwei.

Dass dies eine bittere Entwicklung ist, streitet auch die Kassenzahnärztliche Vereinigung Sachsen (KZS) nicht ab: Zwar liege man im gesamten Landkreis Görlitz mit 130 Prozent rein statistisch bei einer Überversorgung, aber: "Für Herrnhut und auch Bernstadt gibt es mit inzwischen unter 100 Prozent eine drohende Unterversorgung", erklärt der Vorstandsvorsitzende der KZS, Holger Weißig, auf Nachfrage. Er sieht vor allem zwei Gründe, warum es bei der Zahnarzt-Nachfolge nicht nur hier hapert: Zum einen gebe es den Trend, dass sich frisch ausgebildete Zahnärzte nach Studium und Facharztausbildung gern in einer Praxis anstellen lassen - durchaus für bis zu zehn Jahre - bevor sie sich mit einer eigenen Praxis niederlassen. Zum anderen sei die Region schlicht nicht attraktiv genug, sagt der Mann, der selbst eine Praxis in Gaußig bei Bautzen hat. Die regionale Politik müsse Konzepte entwickeln - vor allem mit Blick auf die Infrastruktur - damit die Patienten zu den Ärzten kämen und eine Niederlassung attraktiver wird.

Praxiseröffnung mit Schicksalsschlag

Für die beiden Praxen in Herrnhut kommt das zu spät: "Ich werde das Haus verkaufen", erklärt Ingrid Gleisberg, die gerade Kisten packt. Die medizinischen Geräte, die weiter nutzbar sind, hat sie der Ukraine-Hilfe gespendet. Dass sie sich überhaupt entschieden hat, das Praxis-Haus mit Einliegerwohnung in der Oskar-Lier-Straße zu veräußern, war kein leichter Schritt, denn er ist für sie mit einer sehr persönlichen Geschichte verbunden.

Als junge Ärztin und Mutter zweier kleiner Töchter hatte sie sich nach der Wende mit ihrem Mann entschieden, ein extra Haus für die Praxis zu bauen und sich selbstständig zu machen. Denn das Gebäude der Herrnhuter Poliklinik, in der Frau Gleisberg bis dahin gearbeitet hatte, ging wieder an den Alteigentümer zurück, die Zukunft dort war vage. Kurz nachdem das neue Haus fertig war, verstarb Ingrid Gleisbergs Mann plötzlich. "Ich habe mich in Arbeit gestürzt, hatte ja auch Schulden", erinnert sie sich. Dass alles einen guten Weg genommen hat, daran haben ihre Töchter großen Anteil, ist sie sicher. "Ich weiß, dass ich in ihrer Kindheit nicht immer viel Zeit für sie hatte", erklärt die 67-Jährige, die in Ruppersdorf lebt. "Deshalb will ich jetzt ein bisschen Zeit nachholen." Zu ihrer älteren Tochter nach Basel und zur jüngeren Tochter nach Dresden will sie nun - wenn das alles wieder möglich ist - häufiger fahren.

Schon in der Poliklinik dabei

Mitten in der Praxisauflösung steckt auch Angelika Matjeka. Ihre Praxis hat sie sich in dem Haus in der Dürningerstraße eingerichtet, das sie mit ihrem Mann damals für die Familie kaufen konnte. Was aus den Räumen wird - ob Vermietung als Büro, Praxis oder Wohnung - steht noch offen. Genau wie ihre Kollegin Frau Gleisberg hat auch sie nach Studium und einer ersten Station in ihrer erzgebirgischen Heimat Stollberg ihre Facharztausbildung in der Poliklinik in Löbau absolviert. Dann begannen beide Frauen - inzwischen junge Mütter - in der Herrnhuter Poliklinik zu arbeiten.

"Ich habe mir immer schon vorgestellt, Zahnärztin zu werden", erinnert sich Ingrid Gleisberg. Als klassisches Arbeiterkind aus Berthelsdorf - ihr Vater war Maurer, die Mutter arbeitete in der Hapa-Fabrik im Ort und steppte Hausschuhe - bekam sie auch einen Studienplatz. Ihr ging es darum, Leuten zu helfen, sagt Frau Gleisberg, die selbst zwar "keine besonders guten Zähne" habe, aber auch nie Panik vor dem Zahnarzt verspürte. In ihrer Landzahnarztpraxis hat sie vielerlei Eingriffe durchgeführt. Operationen, die ihren Patienten die Schweißperlen auf die Stirn trieben - "Wurzelspitzenresektionen oder verlagerte Weisheitszähne" - habe sie "gern gemacht", erzählt sie.

Auch Angelika Matjeka - die mit einem Medizin-Studium immer liebäugelte - hatte keine Berührungsängste mit solchen OPs. Nur in letzter Zeit und bei schwierigen Fällen habe sie an spezialisierte Kollegen überwiesen: "Wenn ein Kieferchirurg den Eingriff in wenigen Minuten macht und ich dafür doppelt so lange brauche, weil es nicht Routine ist, muss ich das mir und meinem Patienten nicht antun", erklärt Frau Matjeka. Die Frau, die noch in diesem Jahr 65 wird, hätte zwar noch weiterarbeiten können, aber sie spürt, dass sie körperlich an ihre Grenzen kommt und will zudem für ihre bald fünf Enkel und ihren pflegebedürftigen Vater da sein.

Krone und Bohrer verschluckt

Dankbar sind beide, dass es in ihren jeweils rund 40 Berufsjahren nie größere Fehler oder Unfälle gegeben habe - skurrile Vorfälle schon: "Einer meiner Patienten hat einmal einen Bohrer verschluckt, ein anderer seine Krone, die ich gerade einsetzen wollte", schildert Ingrid Gleisberg. Zum Glück ging beides schadenfrei ab. Die Krone kam wieder zum Vorschein und konnte sogar noch eingesetzt werden. Angelika Matjeka muss ihrerseits noch heute lachen, wenn sie an die Warnung eines kleinen Mädchens vor der Behandlung denkt: "Sei vorsichtig, meine Zähne sind ganz schön scharf." Schwierig war für sie mitunter, wenn Patienten auch nachts vor ihrer Haustür und damit vor der Praxis gestanden haben - mit der Bitte um Behandlung. "Das geht natürlich zu Lasten des Familienlebens", berichtet sie.

Von ihren Patienten Abschied zu nehmen, ist keiner der Zahnärztinnen leicht gefallen, manche haben sie seit ihrer Löbauer Ausbildungszeit oder der Herrnhuter Poliklinik-Zeit begleitet. "Ich habe über Jahre nach einem Nachfolger gesucht, hatte meine Praxis lange auf verschiedenen Plattformen stehen - ohne Erfolg", sagt Angelika Matjeka. Und ihre Kollegin betont, dass ihr dieses Problem bereits vor genau fünf Jahren schwante, als ihre Herrnhuter Kollegin Veronika Hutter in Ruhestand gegangen war. Und doch hoffen sie, dass doch noch ein neuer Kollege in die Region kommt.

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