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Sachsens Kinder schlucken zu viele Magenpillen

Die Barmer kritisiert den zunehmenden Griff zu Säureblockern und warnt vor den Folgen. Das sind die Alternativen.

Von Stephanie Wesely
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Mist, schon wieder Magenschmerzen. Hoffentlich hilft mir die Pille, damit ich meinen Schultag schaffe.
Mist, schon wieder Magenschmerzen. Hoffentlich hilft mir die Pille, damit ich meinen Schultag schaffe. © 123rf

Stress in der Schule, Ärger mit Eltern oder Freunden und falsches Essen – das lässt den Magen schnell mal schmerzen, Entspannung und Schonkost könnten die Beschwerden lindern. Doch immer mehr Kinder und Jugendliche nehmen bereits Magensäureblocker ein – zum Beispiel Pantoprazol, eines der am häufigsten verordneten Wirkstoffe gegen Sodbrennen, Magendruck und saures Aufstoßen. Das zeigt eine aktuelle Analyse der Barmer, bei der Verordnungen aus dem Jahr 2006 mit denen von 2019 verglichen wurden. Deutschlandweit bekamen im vorvergangenen Jahr 42.500 der 10- bis 14-Jährigen diese Medikamente, eine Steigerung um 173 Prozent gegenüber 2006. Bei den 15- bis 19-Jährigen stiegen die Verordnungen um 165 Prozent. In Sachsen schluckten bereits mehr 1.600 Kinder Magenpillen.

„Die hohe Verordnungszahl ist medizinisch und demografisch nicht erklärbar“, sagt Fabian Magerl, Landesgeschäftsführer der Barmer in Sachsen. „Denn Magenschleimhautentzündungen, Sodbrennen und Magengeschwüre sind keine Erkrankungen, die man mit jungen Menschen in Verbindung bringt.“ Dabei zeige die Analyse noch gar nicht das wahre Ausmaß des Problems. Denn sie berücksichtigt nur auf Kassenrezept verordnete Magensäureblocker. „Ein großer Teil dieser Medikamente ist frei verkäuflich und wird ohne ärztliche Kontrolle eingenommen“, sagt Dr. Ursula Marschall, leitende Medizinerin der Krankenkasse. Es sei nicht ausgeschlossen, dass vor der Verschreibung schon eine Selbstmedikation stattgefunden hat, die dann aber nicht mehr ausgereicht habe. Was ist nur mit den Jugendlichen los, dass sie bereits solche Medikamente brauchen?

Sozialer Stress und wachsende Leistungsanforderungen könnten Gründe dafür sein, dass sich junge Menschen häufiger unter Druck fühlten, was ihnen buchstäblich auf den Magen schlage, so Ursula Marschall. „Die schulische Belastung wird stärker wahrgenommen als noch vor zehn oder 20 Jahren.“ Das Jugendalter sei zudem eine besonders konfliktreiche Zeit und von großen Veränderungen geprägt. „Wir wollen Ärzte sensibilisieren, darauf hinzuwirken, dass Probleme auch auf andere Art gelöst werden, zum Beispiel durch das Angebot von Gesprächen und Beratung“, so Marschall. Trotzdem müsse den jungen Patienten in einer schmerzhaften Situation geholfen werden. Eine Packung Magensäureblocker zu verordnen, sei nicht zu kritisieren. Doch vor weiteren Folgerezepten sollte eine gründliche Diagnostik stehen.

Denn Magenmedikamente sind nicht harmlos: Sie erhöhen das Risiko für Osteoporose, Nierenerkrankungen und Darminfektionen. „Niedriger dosierte, frei verkäufliche Mittel sind nicht weniger risikobehaftet als verschreibungspflichtige. Schädlich ist die lange Dauer der Einnahme, die oft leichtfertig erfolgt.“

Ein Teufelskreislauf

Der Mehrverbrauch sei auch mit der veränderten Esskultur und dem Lebensstil zu erklären. So nehmen sich viele Jugendliche zum Essen nicht wirklich Zeit. Gegessen werde am liebsten unterwegs und in der Gruppe. „Bevorzugt greifen sie dann zu Fast Food, was reich an Fett, Zucker und Salz ist. Auch zu häufiges Essen ohne größere Pausen zwischen den Mahlzeiten und schlechtes Kauen erschweren die Verdauung“, so die Ärztin. Hinzu komme die oft mangelnde Bewegung, was den Magen zusätzlich stresst. Ursula Marschall: „In diesem Alter haben Kinder und Jugendliche oft erstmals Kontakt mit Alkohol. Auch der greift die Magenschleimhaut an, was viele nicht wissen.“

In bestimmten Fällen sei eine Einnahme von Magensäureblockern aber notwendig, zum Beispiel bei Rheuma und anderen Autoimmunkrankheiten. Die Rheumamittel förderten einen Magensäureüberschuss, der medikamentös gelindert werden müsse. Damit die Medikamente richtig wirken, gelte es, den Einnahmezeitpunkt zu beachten, sagt die Medizinerin. „Nach den Mahlzeiten sind sie nicht angezeigt, denn die Nahrung selbst hemmt bereits die Magensäure. Am besten ist die Einnahme vor dem Schlafengehen, wenn die letzte Mahlzeit schon etwas zurückliegt.“

„In der Gruppe der Erwachsenen dagegen gibt es einen erfreulichen Trend. Hier gehen die Verordnungen seit 2016 langsam zurück. So gab es im Jahr 2019 in Sachsen 47.000 Verordnungen weniger als 2016. Die langjährige Debatte um die Sinnhaftigkeit und die Nebenwirkungen der Medikamente scheint endlich Wirkung zu zeigen“, sagt Fabian Magerl.

Wer zu lange Magensäureblocker schluckt, kann in eine Art Teufelskreis geraten, weil sich der Körper an die Medikamente gewöhnt. Wenn sie dann abgesetzt werden, könne es zu einer überschießenden Magensäureproduktion kommen, die schnell zu neuerlichen Magenschmerzen und Sodbrennen führt. Die Betroffenen werden daraufhin wieder zu den Medikamenten greifen. Das Abgewöhnen sollte deshalb allmählich, mit langsam sinkender Dosis erfolgen, rät die Ärztin.

Achtung Zwerchfellbruch

Gelegentliches Sodbrennen lässt sich in vielen Fällen auch mit Hausmitteln behandeln. So können stärkehaltige Nahrungsmittel wie trockenes Weißbrot, Zwieback, Kartoffeln, Bananen oder gut gekaute Nüsse Magensäure binden und so das Sodbrennen lindern. Vorteilhaft sei auch ein Löffel Senf nach der Mahlzeit. Die darin enthaltenen Senföle könnten das Aufsteigen von Magensäure verhindern.

Als altes Hausmittel gegen Sodbrennen gilt Natron, das etwa in Backpulver steckt. Es reagiert chemisch mit der Salzsäure des Magens. Dabei entstehen Wasser und das Gas Kohlendioxid. Allerdings kann CO2 den Druck im Bauchraum erhöhen und damit indirekt wieder den Säurereflux fördern. Was in den meisten Fällen helfe, seien kleine, gut gekaute Mahlzeiten, wenig scharfe oder stark angebratene beziehungsweise gegrillte Lebensmittel und neutrale Getränke wie Wasser oder ungesüßter Tee.

„Wichtig ist es, zu analysieren, wann das Sodbrennen auftritt“, rät Ursula Marschall. Brenne es vor allem nachts und im Liegen, könne ein sogenannter Zwerchfellbruch vorliegen. Dieser kann mit einem minimalinvasiven chirurgischen Eingriff behandelt werden. Anfangs genüge es aber oft schon, das Kopfende des Bettes beim Schlafen etwas höher zu stellen, damit die Magensäure nicht so leicht in die Speiseröhre aufsteigt. Erst wenn all diese Mittel nicht helfen und eine Änderung des Lebensstils keine Besserung bringt, sollte zu Medikamenten gegriffen werden. „Um unsere Analyseergebnisse bekannt zu machen, arbeiten wir mit den ärztlichen Fachverbänden zusammen. Unsere Verordnungsdaten sind zwar keine wissenschaftliche Studie, zeichnen aber ein sehr reales aktuelles Bild. Die Ergebnisse können Anlass sein, das Verordnungsverhalten weiter kritisch zu hinterfragen“, so Ursula Marschall.