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Wie aus Ehemann Dietmar Ehefrau Dagmar wurde

Glücklich verheiratet, Vater zweier Kinder – und doch im falschen Körper. Ein Dresdner entdeckt seine Transsexualität und entschließt sich spät zu einem folgenschweren Schritt.

Von Kornelia Noack
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Die Liebe war stärker: Dagmar Schreiber und ihre Frau Birgit sind auch nach 50 Jahren Ehe noch immer tief verbunden.
Die Liebe war stärker: Dagmar Schreiber und ihre Frau Birgit sind auch nach 50 Jahren Ehe noch immer tief verbunden. © Jürgen Lösel

Es gibt sie wirklich noch, die Geschichten einer großen Liebe. Es war im Sommer 1973. Dietmar war damals gerade 21 Jahre alt, Birgit junge 19. Im FDGB-Urlaub im thüringischen Ilmenau trafen sich der Dresdner und die Großenhainerin zum ersten Mal. Sie verliebte sich in seine dunklen, wilden Locken. Nur ein Jahr später heirateten sie, zogen zusammen in eine Wohnung in Dresden, bekamen später zwei Kinder. In diesem Sommer feiern die Schreibers nun ihre goldene Hochzeit.

Gut, ihre Geschichte beginnt wie viele andere auch. Doch es ist nicht mehr Dietmar, der an diesem Februartag am Wohnzimmertisch in Dresden-Cotta voll Freude von dem besonderen Ereignis erzählt. Aus dem Ehemann ist inzwischen Dagmar geworden. 45 Jahre lebte sie im falschen Körper, bis sie den Schritt wagte und sich outete. Ihre Birgit war in dieser Zeit der Tränen und Unsicherheit immer an ihrer Seite.

Transsexualität ist der medizinische Begriff dafür, wenn Menschen sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren können, mit dem sie zur Welt kamen. Wie viele Transsexuelle es in Deutschland gibt, lässt sich nicht genau beziffern. Viele verheimlichen ihre wahre Identität. Dabei sind sie nicht allein. Mehr als 30.000 Deutsche haben ihre Geschlechtszugehörigkeit seit Inkrafttreten des Transsexuellengesetzes 1981 amtlich ändern lassen. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Dagmar möchte mit ihrer Geschichte Mut machen. „Es gibt so viele, die nicht wissen, was und wer sie sind. Das tut mir so leid“, sagt die heute 72-Jährige.

"Ich wollte immer ein richtiger Kerl sein"

Dass sie irgendwie anders ticke, habe sie sehr früh bemerkt. „Ich war schmal und irgendwie gehemmt. Wenn mich ein Lehrer in der Schule angesprochen hat, bin ich rot geworden“, erzählt Dagmar. Sie wirkt weich und noch immer etwas zurückhaltend, wie sie auf ihrem Sofa sitzt, die Beine unter ihrem langen karierten Rock übereinandergeschlagen. Doch schnell kommt sie ins Plaudern.

Ein Bart sei ihr nie richtig gewachsen. Als sie 18 war, habe sie beim Zigarettenkaufen noch den Ausweis zeigen müssen. Sie lernte schließlich Baumaschinist, arbeitete mit am Dresdner Kulturpalast, wurde zur NVA eingezogen. „Ich wollte immer ein richtiger Kerl sein. Aber auf dem Bau zu arbeiten, mit diesem Lärm und dem rauen Umgangston, war für mich das Schlimmste“, sagt Dagmar.

Im Nachhinein betrachtet, sei es wohl eher der Gedanke gewesen: Wenn ich mich im Alltag wie ein Mann verhalte, werde ich mich auch wie einer fühlen. Doch schon damals, mit Mitte 40, spürte Dagmar, dass etwas nicht mit ihr stimmte. „Ich war glücklich verheiratet, liebte die Berge, die Ruhe der Natur, wir fuhren zum Wandern, hatten zwei gesunde Kinder. Ich arbeitete inzwischen als Schlosser in einem kleinen Team, und doch steckte eine tiefe Traurigkeit in mir“, erzählt sie. Dann wurde sie arbeitslos, fühlte sich plötzlich außen vor.

Heimlich Sachen der Frau anprobiert

In dieser Zeit begann sie, in die Sachen ihrer Frau Birgit zu schlüpfen, wenn sie allein war. Sie probierte Röcke, Blusen und BHs an – und gefiel sich. Anvertraut hat sie sich zu der Zeit niemandem. Bis auf die verborgenen Momente allein vor dem Spiegel verdrängte sie ihre Gefühle.

Auch Birgit ahnte nicht, wie es in Dagmar aussah. Erst nach drei Jahren fand diese den Mut, darüber zu sprechen. Über die folgenden Monate sagt Dagmar: „Wir haben es ganz gut hinbekommen.“ Sie lächelt ihre Frau an. „Wir waren sogar zusammen einkaufen. Während ich in der Umkleidekabine war, holte Birgit mir Sachen von den Kleiderständern.“ Ihren Kindern, die längst aus dem Haus waren, sagten beide noch nichts. Sie spielten klassisch Verstecken. „Ich wusste ja nicht, was ich bin. War es nur ein Fetisch? War ich schwul? Oder doch transsexuell?“

Sie traf sich mit einem Mann zum Sex. „Danach wusste ich, dass es das nicht war. Ich fühlte mich benutzt“, sagt Dagmar. In dieser Zeit haderte auch Birgit mit der Situation. „Wir haben viel miteinander geredet, vieles zusammen ausprobiert. Sonst wär es mit uns beiden wohl auseinandergegangen“, sagt Dagmar.

Neues Lebensgefühl durch Hormone

Doch so sehr sie versuchte, nach außen hin als Mann zu leben – inzwischen arbeitete sie in einem kleinen Pharmaunternehmen –, die innere Frau meldete sich immer wieder. „Zu Hause bin ich nur noch in Frauensachen herumgelaufen. Jedes Mal, wenn es klingelte, bin ich zusammengezuckt“, erzählt Dagmar. Irgendwann, als sie schon 60 war, wurde ihr alles zu viel. Sie suchte Hilfe bei einem Psychologen. „Ich selbst konnte es ihm aber nicht richtig erklären.“ Dagmar litt zusehends unter dem Doppelleben. „Nach einer Selbstverletzung lag ich eine Woche auf der Intensivstation“, erzählt sie. „Mir war einfach alles egal.“

Die Dresdnerin rappelte sich wieder auf, fand erneut Unterstützung bei ihrem Psychologen. Schließlich stellt er die Diagnose: Dagmar ist transsexuell. „Für mich war in dem Moment klar: Ich möchte als Frau leben. Wenn ich das nicht tue, gehe ich zugrunde“, sagt sie. Und ihre Ehefrau? „Sie war die ganze Zeit an meiner Seite. Das hat mich glücklich gemacht“, sagt Dagmar.

Gut erinnert sie sich noch daran, wie sie zum ersten Mal weibliche Hormone eingenommen hat. Wie eine Pubertierende habe sie sich da gefühlt. „Ich konnte nicht mal mehr einen Märchenfilm gucken, ohne loszuheulen“, erzählt sie und lacht. „Es war so ein tolles Gefühl, weinen zu können. Ich habe früher nie geweint.“ Auch ihre Ängste seien mit der Einnahme der Östrogene verschwunden. „Ich hatte mein Leben lang Angst, was die Leute von mir denken, hatte Minderwertigkeitsgefühle. Nun wurde mir klar, dass die Leute eher vor mir Angst hatten, weil sie nicht wussten, wie sie mit mir umgehen sollen“, sagt Dagmar.

Geschlechtsangleichende OP mit 65 Jahren

Sie fand eine Selbsthilfegruppe in Dresden. Der Austausch mit anderen Transsexuellen half ihr sehr, sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden. „Man denkt ja immer, man ist allein damit.“ Sie stellte den Antrag auf Namens- und Personenstandsänderung beim Amtsgericht. Für viele Transsexuelle ist das ein wichtiger Schritt. Es dauerte fast anderthalb Jahre. Zwei unabhängige Gutachter mussten Dagmars Transsexualität bestätigen, auch die Alltagserprobung gehörte dazu.

„Ich musste in Frauensachen nach draußen gehen, das war anfangs nicht leicht“, erinnert sich die 72-Jährige. Irgendwann wurden ihr Name und das weibliche Geschlecht anerkannt. Sie konnte Dokumente wie Geburtsurkunde und Ausweis ändern lassen.

Eine geschlechtsangleichende Operation war lange kein Thema. „Doch ich spürte irgendwann, dass das Bild im Spiegel nicht mit dem übereinstimmt, was ich fühle“, sagt Dagmar. Sie war bereits 65, als sie sich einem Spezialisten in München anvertraute. Zwei Eingriffe waren für die Genitalangleichung nötig. Knapp zwei Jahre später folgte die Vergrößerung der Brust durch Silikonimplantate. Gerade die Brust spielt für die Geschlechtsidentität und das Selbstbewusstsein vieler Transfrauen eine besondere Rolle. So ist es auch bei Dagmar. „Ich bin glücklich heute, weil mein Körper zu dem wurde, was ich bin.“

Gesundheitliche Probleme durch Brustimplantate

Dann schlug das Schicksal zu. Ein halbes Jahr nach der Brust-OP im Sommer 2019 wurde Dagmar mit Herzrhythmusstörungen in eine Klinik eingeliefert. Radfahren und Wandern fielen ihr schwerer, die Gelenke in Knie und Ellbogen schmerzten, ebenso die Oberschenkel, das Schlucken mache Beschwerden. Sie wurde von oben bis unten durchgecheckt, bislang konnten die Ärzte nichts finden. Vergangenes Jahr machte sie eine psychosomatische Kur.

Dagmar Schreiber hatte sich schon aufgegeben, als sie im „Nachtcafé“, einer Talkshow im SWR-Fernsehen, vom Schicksal einer Frau erfuhr, die offensichtlich dasselbe durchlebt hat wie sie. Sie sprach dabei von der Brustimplantatekrankheit (Breast Implant Illness, BII) und hatte mit anderen Betroffenen den Verein „Risiken von Silikonimplantaten“ gegründet. „Ich konnte es kaum fassen. Als sie von ihren Symptomen erzählte, passte das hundertprozentig auf mich“, sagt Dagmar. Sie suchte Hilfe bei den Frauen des Vereins, die rieten ihr zum Rausnehmen der Implantate. „Es macht mich traurig, weil ich meine Brüste liebe. Aber ich will endlich wieder schmerzfrei leben“, sagt Dagmar.

Mit Michael Büschges fand sie in Pirna einen plastischen Chirurgen, der sich mit der Thematik auskennt. Er schrieb ihr im letzten Dezember ein Attest. Denn zunächst musste ihre Krankenkasse, die AOK Plus, die Übernahme der Kosten für die Entfernung und das sogenannte Lipofilling, das Auffüllen der Brüste mit körpereigenem Fett, bestätigen. Auch eine persönliche Stellungnahme fügte sie dem Antrag bei sowie etliche Arztbefunde. Schließlich musste sich Dagmar Schreiber beim Medizinischen Dienst vorstellen.

Kampf mit der Krankenkasse

Am Ende lehnte die Kasse ab – mit der Begründung, dass die Breast Implant Illness keine eindeutige Erkrankung sei. Dagmar Schreiber ist noch immer außer sich, wenn sie davon erzählt. Auf Nachfrage der SZ schreibt die AOK Plus: „Es handelt sich hierbei um ein sehr breites Spektrum von Symptomen, die auch bei anderen Erkrankungen häufig zu finden sind.“ Außerdem stelle eine Entnahme der Implantate keine Standardtherapie zur Behandlung der beschriebenen Symptome dar.

Der Gutachter empfehle aufgrund der bestehenden psychosomatischen Beschwerden eine weitere fachärztliche Mitbehandlung zur Stabilisierung der psychischen Gesundheit. Und: Eine Kostenübernahme sei beispielsweise bei Bestehen einer Kapselfibrose, einem Defekt der Implantate oder einer nachgewiesenen Unverträglichkeit möglich.

Dagmar Schreiber will in Widerspruch gehen. „Warum wird die Krankheit nicht anerkannt, obwohl es doch schon so viele Betroffene gibt!“ Der letzte Weg für sie sei nur, die mehreren Tausend Euro selbst zu zahlen. „Ich will doch einfach nur noch ein paar Jahre mit meiner Frau weiter aktiv leben“, sagt sie.

Goldenes Ehe-Jubiläum im Sommer

Dann greift sie zu einem Fotobuch, das auf einem kleinen Tisch neben der Couch liegt. „Ich mag die alten Bilder, das ist ja unser gemeinsames Leben.“ Ein Schwarz-Weiß-Bild zeigt ein junges, verliebtes Pärchen am Strand. Er trägt eine schwarz umrandete Brille, die dunklen Locken wirbeln im Wind. „Das war bei unserer Hochzeitsreise nach Pizunda am Schwarzen Meer“, sagt Dagmar. Dass ihre Beziehung so lange gehalten hat, sei für die beiden etwas ganz Besonderes. Zum goldenen Jubiläum im Sommer wollen sie mit ihren beiden Kindern, den zwei Enkeln, Verwandten und einem befreundeten Ehepaar essen gehen. Es sind die letzten engen Freunde, die den Schreibers geblieben sind

Ihr Umfeld habe sich verändert, sagt Dagmar. Selbst ihr bester Freund habe auf ein Foto nie wieder reagiert. Vor einem Jahr hat Dagmar beim Herzsport eine Frau kennengelernt, die ihr eine gute Freundin geworden ist. Ihr Sohn, der anfangs Schwierigkeiten mit der Transsexualität hatte, habe ihr letztens sogar etwas zum Frauentag geschenkt, erzählt Dagmar freudig.

Die Schreibers wirken glücklich, wie sie beide auf der Couch sitzen. Und, hat Dagmar sich als Mensch sehr verändert? Nein, sagt Dagmar selbst. Ja, sagt Birgit. „Sie redet jetzt viel viel mehr.“