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Warum hat jeder seine eigene Erinnerung an die DDR?

Anne Rabes Debütroman "Die Möglichkeit von Glück" ist in aller Munde. Nun war sie in Görlitz. Bei ihrer Lesung zur DDR-Vergangenheit blieb kein Platz leer.

Von Ines Eifler
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Die Autorin Anne Rabe bei ihrer Lesung im Benigna-Theater am Görlitzer Untermarkt.
Die Autorin Anne Rabe bei ihrer Lesung im Benigna-Theater am Görlitzer Untermarkt. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Mit der Erinnerung an die DDR ist es so eine Sache. Auf der einen Seite gibt es eine bedeutende Aufarbeitungszene. Sie erinnert an den rigiden Umgang des SED-Regimes mit zahlreichen Menschen, die nicht ins System passten, unter Stasibewachung standen, wegen Lappalien inhaftiert wurden oder ihrem Beruf nicht nachgehen durften.

Auf der anderen Seite ist da eine große Menge, die entweder keine Repressionen erlebt hat, sich an die lähmende Politik nicht mehr erinnert oder nicht mehr daran erinnern will, warum es Ausreisewellen gab und Hunderttausende Menschen, die 1989 auf die Straße gingen. Aus der Unzufriedenheit mit dem, was auf die DDR folgte, verklärt sich die Erinnerung an früher.

DDR-Erinnerung wurde immer schnuckeliger

"Nach der Wende kamen zuerst die Ostprodukte und dann Filme wie 'Sonnenallee' – die Erinnerung an die DDR wurde immer schnuckeliger", sagt die aus Wismar stammende Autorin Anne Rabe, die am Donnerstag auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung im Benigna-Theater auf dem Görlitzer Untermarkt zu Gast war. In ihrem für den Deutschen Buchpreis 2023 nominierten Roman "Die Möglichkeit von Glück" geht es um das Phänomen der selektiven Erinnerung an die DDR und die seelischen Folgen von Diktatur.

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Ihr Buch erzählt die Geschichte einer linientreuen Familie aus Sicht der Tochter Stine, die wie Anne Rabe selbst Jahrgang 1986 ist. Die Protagonistin erlebt einen extremen Widerspruch zwischen dem, was ihre Eltern über ihr Leben und den Alltag in der DDR erzählen und dem, was sie zu Hause, auf der Straße und in der Schule erlebt.

Noch Mitte der 1990er Jahre schwärmt der Vater vom Kommunismus, in dem alle gleich viel wert seien und Geld nicht mehr benötigt werde. Auf die Frage seiner zehnjährigen Tochter, warum dann die Mauer eingerissen wurde, antwortet er, die Menschen seien noch nicht bereit gewesen.

Gewalt zu Hause, auf den Straßen, in der Schule

In ihrem Erleben ist das Mädchen jedoch mit Gewalt konfrontiert: zu Hause mit einer Mutter, die ihre Kinder verprügelt; auf den Straßen mit Neonazis, die Punks zusammenschlagen; in der Schule mit Lehrern, die Schülern vorwerfen, sie hätten auf dem Gymnasium nichts zu suchen.

Schon früh hat sich Anne Rabe gefragt, wieso die Eltern- und Lehrergeneration die neu entfachte Gewalt der Nachwendejahrzehnte auszublenden schien, von den Neonazis der 1990er über den Amoklauf von Erfurt 2002 bis zu den Morden des NSU. So hat sie sich auf die Suche gemacht, in Archiven geforscht und in Biografien gelesen, hat die Vorstellungen von Erziehung in der DDR analysiert und mit Erschrecken festgestellt, welch großen Platz die "schwarze Pädagogik" einnahm und wie viel darüber geschwiegen wird.

"Kinderglatzen" von einst sind immer noch da

Auch ihre Romanheldin begibt sich auf diese Suche und stößt auf Tabus, etwa den Umgang mit Opfern familiärer Gewalt, die oft als "schwer erziehbar" galten und deshalb in Jugendwerkhöfen gebrochen wurden und Zwangsarbeit leisten mussten.

Im Gespräch mit der Leipziger Historikerin Pia Heine erzählt Anne Rabe in Görlitz, ihr Anlass, dieses Buch zu schreiben, sei die Erkenntnis gewesen, dass viele "Kinderglatzen" ihrer Jugend später bei Pegida und in der AfD wieder auftauchten. Damit stellte sich für sie die Frage des Zusammenhangs zwischen Gewalterfahrungen in der DDR, Radikalisierung in den Umbruchjahren und rechter Gewalt bis heute.

Seit dem Kaiserreich habe es Forschungen zu Gewalt in Familien gegeben, auch in der frühen DDR-Zeit. Damals sei diese noch als bürgerliches Relikt gedeutet worden, das bald verschwinden würde. "Doch als es in den 1970er Jahren immer noch da war, wurde die Forschung eingestellt."

Zuhörer erinnert an rechte und linke Jugendliche in Görlitz

Die häuslichen Prügelszenen in Anne Rabes Roman klingen wie aus einer längst vergangenen Zeit. Die Autorin hat jedoch Gleichaltrige befragt und erfahren, dass viele in den 1980ern Geborene familiäre Gewalt erlebten, "ganz gleich, ob in linientreuen, kirchlichen oder Dissidentenfamilien". Sie habe den Eindruck, die mit der Umbruchzeit einhergehende Verunsicherung der Eltern und Lehrer, die hohe Arbeitslosigkeit, die Auflösung vertrauter Strukturen, die Zukunftsangst habe Gewalt an Kindern und Jugendlichen noch einmal befördert. "Nicht generell, aber es war ein Phänomen."

Das Benigna-Theater ist an diesem Abend dicht gefüllt, manche haben Anne Rabes bewegendes Buch bereits gelesen, andere melden sich mit eigenen Erfahrungen zu Wort. Unter anderem ein Sozialarbeiter, der in den 1990ern in Königshufen mit Jugendlichen arbeitete. "Von einem auf den anderen Tag waren sie radikal links oder rechts", erinnert er sich.

"Gerade teilten sie noch die Schulbank miteinander, plötzlich waren sie verfeindet." Mit politischen Ausrichtungen habe das nicht viel zu tun gehabt, sondern eher, wem man sich anschloss. Dass die Gewaltbereitschaft auch mit der Situation daheim zu tun hatte, bestätigt er. "Durch die hohe Arbeitslosigkeit waren viele Eltern zu Hause und die Kinder ständig mit ihnen konfrontiert, da gab es viele Konflikte."