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Der Kunstskandal des Jahres: Wie eine Bronzeplastik die Görlitzer entzweite

Die Figur am Gedenkort für Ulf Großmann löste im Frühjahr eine heftige Diskussion aus. Sie bewegte auch den Schöpfer des Kunstwerks Erik Neukirchner.

Von Ines Eifler
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Anfang Dezember bekleideten Unbekannte die Figur  an der Altstadtbrücke mit gestricktem Schal und Mütze.
Anfang Dezember bekleideten Unbekannte die Figur an der Altstadtbrücke mit gestricktem Schal und Mütze. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Die Diskussion um das Kunstwerk an der Altstadtbrücke ist schon fast vergessen, die im Frühsommer besonders die Görlitzer Facebook-Gemeinde bewegte.

Doch vor einigen Monaten war der Aufschrei groß: Was für eine "hässliche" Figur da aufgestellt worden sei! Wie "verstörend" sie mit ihrem abgemagerten Körper wirke. Und wie man damit den früheren Kulturbürgermeister Ulf Großmann ehren könne, der im Januar 2020 an einer Krebserkrankung im Alter von 62 Jahren starb. Andere sprachen sich für das Kunstwerk aus und mussten wiederum harte Kommentare einstecken.

Für den Bildhauer Erik Neukirchner, der zuvor noch nie ein Kunstwerk für den öffentlichen Raum geschaffen hatte, kam die Heftigkeit der Diskussion überraschend. Auch wenn er inzwischen entspannt darauf zurückblickt, bedauert er, dass bei der Einweihung des Gedenkortes nicht mehr auf die inhaltlichen Aspekte seines Kunstwerks eingegangen wurde.

"Mehr Erklärung wäre gut gewesen"

Dann hätte vermittelt werden können, was die Idee des Kunstwerks mit dem Leben Ulf Großmanns zu tun habe. Und es hätte öffentlich darauf hingewiesen werden können, dass die gesamte, gemeinsam mit dem Landschaftsarchitekten Maik Schaufuß geschaffene Anlage gestalterisch auf die Altstadtbrücke und damit auf Großmanns große Vision einer deutsch-polnischen Stadt Bezug nimmt.

Erik Neukirchner selbst wollte sich bei der Einweihung im April nicht äußern, sagt aber heute: "Es wäre gut gewesen, den Görlitzern etwas Erklärendes an die Hand zu geben."

Der Bildhauer Erik Neukirchner, Schöpfer der Bronzeplastik "Großer Gehender". Die meisten seiner Kunstwerke sind in Privatbesitz oder – wie hier in Wildenfels – in Ausstellungen zu sehen.
Der Bildhauer Erik Neukirchner, Schöpfer der Bronzeplastik "Großer Gehender". Die meisten seiner Kunstwerke sind in Privatbesitz oder – wie hier in Wildenfels – in Ausstellungen zu sehen. © Greta Galisch de Palma

Denn die Diskussion, die wie ein Strohfeuer um sich griff und wieder erlosch, aber abgründige Äußerungen zutage brachte, habe den Blick verstellt und die Möglichkeit einer echten Auseinandersetzung untergraben. "Sie hat mich nicht traurig gemacht, weil sie sehr durchschaubar war und von vielen eindeutig dazu genutzt wurde, ihren Frust loszuwerden", sagt der 51-jährige Künstler aus Augustusburg bei Chemnitz. "Aber danach hatte ich das Gefühl, es sei eine Chance verpasst worden."

Stadtführer wissen Bescheid

Diese Chance ergriff der Bildhauer im Sommer immerhin gegenüber Görlitzer Stadtführern. Damit sie es Görlitzer Touristen weitererzählen, erklärte er ihnen seine Intention und inwieweit der "Große Gehende" mit Ulf Großmann in Verbindung steht. Zwar hatte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer schon bei der Einweihung des Gedenkortes im April klargemacht, dass die Figur keineswegs den verstorbenen Politiker darstellen solle.

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Sondern Großmann habe Neukirchners Werk sehr geschätzt und sei von dieser Figur sehr beeindruckt gewesen. Deshalb habe die Familie den Vorschlag gemacht, Großmanns mit dem "Großen Gehenden" öffentlich zu gedenken. Der Görlitzer Stadtrat stimmte zu, die Verwaltung brachte es – laut Neukirchner mit großer Begeisterung und viel Unterstützung – auf den Weg.

Jeder ist mal schwach und friert

Der Bildhauer hatte sich für seine Figur von einer Begegnung mit einem sehr geschwächten jungen Leukämiekranken inspirieren lassen, der trotz seines Leides zu gehen versuchte und Hoffnung in sich trug. Intention des Kunstwerkes war vor allem der Gedanke, hinzuschauen, wenn man eigentlich wegschauen möchte. Zu ertragen, was unerträglich ist. Den Blick nicht abzuwenden im Wissen, dass jedes Leben fragil ist. "Wenn sich jemand von der Figur berühren lässt und empfindet, dass er selbst derjenige sein könnte, der schwach ist und friert, dann ist etwas Wichtiges passiert", sagt Neukirchner.

Dieser Gedanke, dass jeder Mensch besonders ist und es sich auch in der Schwäche lohnt weiterzugehen, sei die Verbindung zu Ulf Großmanns Lebensidee. Der zutiefst menschliche Politiker pflegte Beziehungen wie nur wenige, vergaß nie ein Gesicht, schaute bis zuletzt optimistisch nach vorn, berührte Menschen und ließ sich selbst immer wieder berühren. Er kannte Leid, kannte Hoffnung und wusste um die Bedeutung eines jeden für Gemeinschaft und Zukunft.

Deshalb trägt der Gedenkort die Inschrift "Jeder deiner Schritte verändert die Zukunft". Großmanns Tochter Anemone hatte im Mai in einem Interview mit Saechsische.de erzählt, wie sehr ihr Vater daran glaubte. "Er war davon überzeugt, dass jeder, ganz egal, wo er gerade in seinem Leben steht, ob absichtlich oder unabsichtlich, die Zukunft beeinflusst."

Kunst braucht manchmal Zeit

Ein Dreivierteljahr nach der Diskussion um die "Großmann-Plastik" hat sich bereits vieles relativiert. Der Streit darum ist längst verebbt. Zahlreiche Spaziergänger, Radfahrer und Touristen haben die Figur gesehen, anerkennend, fragend, doch ohne sie grundsätzlich infrage zu stellen. Die Gräser rund um die Bronze sind hochgewachsen, wurden von Schnee bedeckt, der bald taute, und haben sich wiederaufgerichtet.

Der "Große Gehende" trug schon eine Sportjacke und jüngst Mütze und Schal, wozu Erik Neukirchner sagt: "Auch wenn sich das nicht gehört – die Reaktion im Herzen ist menschlich und zeigt, dass die Figur etwas auslöst." Er selbst ist glücklich, dass der Gedenkort für Ulf Großmann mit seiner Plastik und der Gestaltung der Anlage durch Maik Schaufuß möglich wurde. Und ist sicher: Kunst im öffentlichen Raum kann zum Bedürfnis werden. "Es braucht nur manchmal Zeit."