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Engpässe bei Medikamenten: Wie ist die Lage im Kreis Görlitz?

Vor drei Monaten haben auch die Apotheker im Kreis Görlitz gestreikt, sie beklagten unter anderem Lieferengpässe bei Medikamenten. Woran liegt das – und wie geht es weiter?

Von Jonas Niesmann
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Wenn von einem Medikament zu wenig da ist, muss Apothekerin Anne-Kathrin Rausch nach Gefühl entscheiden: Wer braucht es am dringendsten?
Wenn von einem Medikament zu wenig da ist, muss Apothekerin Anne-Kathrin Rausch nach Gefühl entscheiden: Wer braucht es am dringendsten? © Nikolai Schmidt

In Zeiten, in denen man sich aufblasbare Plastikflamingos und Pfeffer aus Kambodscha per Over-Night-Delivery nach Hause bestellen kann, in denen permanent alles verfügbar ist, was man braucht oder eigentlich nicht braucht, kommt einem die Situation nahezu abstrus vor: Man hat einen ärztlich verordneten Bedarf an etwas ganz Simplen – und bekommt es einfach nicht.

Doch genauso geht es nach wie vor vielen Apotheken-Kunden. „Gerade musste ich wieder jemanden wegschicken“, sagt Anne-Kathrin Rausch von der Paracelsus-Apotheke in Görlitz. Der Mann habe ein Rezept für Augentropfen gehabt – an und für sich nichts Ungewöhnliches, aber die Tropfen seien zurzeit einfach nicht zu bekommen.

Gegen die Lieferengpässe bei Arzneimitteln haben die sächsischen Apothekerinnen und Apotheker bereits mehrfach protestiert: Zuletzt hatten viele Apotheken Ende November für einen Tag geschlossen, um auf die Missstände aufmerksam zu machen. Die Präsidentin des Apothekerverbandes ABDA, Gabriele Overwiening, nannte die Lage kürzlich im Interview mit der FAZ „noch immer sehr, sehr angespannt.“ Aber wie kommt es überhaupt dazu?

Das Problem: Kostendruck und globale Lieferketten

Um die Kosten für Arzneimittel niedrig zu halten, handeln Krankenkassen mit den Herstellern Rabattverträge aus. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen die Hersteller zunehmend im Ausland einkaufen: Der chemische Rohstoff kommt oft aus China, die Produktion erfolgt in Indien. Solche globalen Lieferketten sind aber hohen Risiken ausgesetzt: Kommt es an nur einer Stelle zu einer Unterbrechung – ein Erdbeben, Handelskonflikte, Produktionsfehler oder Cyberattacken – kommt im schlimmsten Fall die gesamte Produktion zum Erliegen. Bereits Mitte 2023 hat das Bundesgesundheitsministerium ein Gesetz auf den Weg gebracht, um gegenzusteuern und Deutschland für Forschung und Produktion von Arzneimitteln wieder attraktiver zu machen. Bis das Gesetz seine volle Wirkung entfaltet, werde es jedoch noch eine Weile dauern, so ein Sprecher des Ministeriums auf Anfrage.

Den Apotheken bleibt bis dahin nichts anderes übrig, als zu improvisieren. Wenn Anne-Kathrin Rausch etwas nicht vorrätig hat, lässt sie sich von ihren Kunden die Telefonnummern geben. „Wir können den Leuten ja nicht mal sagen, wann wir die fehlenden Medikamente wieder dahaben – ob am nächsten Tag oder erst in einem Monat.“ Also müsse sie priorisieren. Wie das dann abläuft, erklärt Sie an einem Beispiel.

Kürzlich habe der Lieferung mal wieder eine Packung Trulicity beigelegen – ein Mittel für Diabetiker, das den Blutzuckerspiegel senkt und das Hungergefühl reduziert. Doch seit vor wenigen Jahren bekannt wurde, dass der Wirkstoff auch als einfacher Weg zum Abnehmen verwendet werden kann, kommt der Hersteller mit der Produktion nicht mehr hinterher. Für die Patienten, die tatsächlich Diabetes haben, ist das ein Problem: Sie sind darauf angewiesen, das Mittel wöchentlich zu spritzen. Es gebe eine lange Warteliste, in die Rausch sowieso nur noch Stammkunden aufnehme. „Dann muss ich nach Gefühl entscheiden: Wer braucht es gerade am dringendsten, wer wartet schon am längsten?“

Experten-Tipp: Eine Kundenkarte besorgen

Dr. Reinhard Groß vom Sächsischen Apothekerverband empfiehlt den Betroffenen, bei mehreren Apotheken nachzufragen. „Die Zuteilungen der Lieferanten sind durchaus zufällig, also bekommt eine Apotheke den bestellten Artikel und die andere nicht", so Groß. Gleichzeitig rät auch er, sich eine Stamm-Apotheke zu suchen und sich dort eine Kundenkarte zu besorgen. Ein solcher Stammkunde bekam dann auch den ersehnten Anruf von Anne-Kathrin Rausch – andere warten weiter.

Über 100 Arzneimittel aus ihrem Sortiment seien momentan nicht lieferbar, so Rausch. Das sei eine ganz bunte Mischung, von Asthmaspray über Augentropfen zu Schmerzmitteln. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte listet online derzeit 471 Medikamente mit Lieferengpässen auf, darunter auch Antibiotika, Blutdrucksenker oder Parkinson-Medikamente. Insgesamt sind in Deutschland rund 100.000 Arzneimittel zugelassen.

471 Medikamente mit Lieferengpässen

Auch Jeannine Drescher von der Adler-Apotheke in Reichenbach hat große Probleme, bestimmte Medikamente zu bekommen. Um ihre Kunden trotzdem möglichst selten mit leeren Händen wegschicken zu müssen, legt sie sich ins Zeug: „Ich klappere alle Großhändler ab, frage die Hersteller auch direkt an; in dringenden Fällen rufe ich auch bei anderen Apotheken an und frage nach, ob dort noch etwas vorrätig ist.“ Oft könne man auch ein Medikament durch ein anderes ersetzen oder eine andere Dosierung dafür benutzen. „Die Apotheken wenden viel Zeit und Personal dafür auf, die Lieferengpässe zu managen und nicht zu echten Versorgungslücken werden zu lassen“, sagt Reinhard Groß vom Sächsische Apothekerverband. Gemeinsam mit den Anlaufproblemen beim e-Rezept sei das eine große Herausforderung.

Wenigstens bei Medikamenten für Kinder, wo es vergangenes Jahr besonders eng war, gibt Jeannine Drescher von der Adler-Apotheke Entwarnung: Hier habe sich die Situation inzwischen etwas entspannt. Trotzdem können sich Kunden auf weitere Protestaktionen einstellen, verrät Reinhard Groß: Die Vereinigung Deutscher Apothekerverbände ABDA bereite gerade eine Strategie vor, um den Forderungen der Branche Nachdruck zu verleihen.