Der Krieg weit weg und doch nah: Ukrainerinnen im Görlitzer Stalag-Gelände
Julia Riazanova hat schon Kämme, Knöpfe, Teile von Schuhen oder die Identifikationsmarke eines Soldaten von Erde befreit – persönlichste Gegenstände von Männern, die vor rund 80 Jahren im Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A in Görlitz-Moys (Zgorzelec) interniert waren.
Während sie solche und andere archäologische Funde in einen Wassereimer taucht und abbürstet, nimmt Vlada Hnatchenko alles mit der Kamera auf, um mit ihrem Team später einen Film daraus zu machen.
Die beiden jungen Frauen gehören zu den 27 Teilnehmern des "Worcation"-Camps, das der Verein Meetingpoint Memory Messiaen in diesem Jahr zum 16. Mal in Görlitz und Zgorzelec organisiert: eine internationale Jugendbegegnung, bei der sich junge Menschen ab 16 Jahren aus der Ukraine, Polen, Italien und Deutschland in archäologischen und künstlerischen Workshops mit dem Thema Kriegsgefangenschaften im Nationalsozialismus beschäftigen, aber auch Freizeit miteinander verbringen.
"Auch ukrainische Soldaten werden interniert"
Diesmal liegt der Fokus auf "Propaganda und Desinformation", wobei der russische Angriffskrieg auf die Ukraine allgegenwärtig ist. Insgesamt sind sechs Teilnehmer aus dem bedrohten Land dabei, teilweise aus der Region Lwiw im Westen, teilweise aus dem Osten.
Für Julia und Vlada ist der Aufenthalt in der Zgorzelecer Stalag-Gedenkstätte besonders bewegend. Die beiden leben in der Ost-Ukraine, wo Bombenangriffe, Raketen und der Aufenthalt in Luftschutzbunkern zu ihrem Alltag gehören.
"Dieser Aufenthalt berührt uns emotional sehr", sagt die 19-jährige Julia. "Wir entdecken hier sehr viele Ähnlichkeiten zur Situation von Soldaten aus unserem Land, denn auch von ihnen sind viele in allerdings russischen Lagern interniert und erleben Dinge, wie sie hier im Zweiten Weltkrieg geschehen sind." Wenn sie Dinge in der Hand halte, die früher Kriegsgefangenen gehörten, gehe ihr das sehe nahe.
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Julia studiert an der Universität Charkiw und will Lehrerin für Deutsch und Englisch werden. "Im Moment ist es jedoch ein Online-Studium", sagt sie, "denn das Gebäude unserer Fakultät wurde bombardiert, es existiert nicht mehr." Deshalb zog sie wieder in ihre Heimatstadt Myrhorod zwischen Charkiw und Kiew, wo es nicht ganz so gefährlich sei.
Ukrainische Lehrerin überlebte mit Schülern Bombenangriff
Die 23-jährige Vlada Hnatchenko ist Grundschullehrerin und lebt ein Stück weiter südlich in Krementschuk, einer Stadt 200 Kilometer vor der Grenze zu Russland und so nahe der Front, dass täglich Raketen über die Stadt fliegen. "Das bekommen wir auch von hier aus mit", sagt sie, "denn die Alarme und Aufrufe, Schutzbunker aufzusuchen, bekommen wir aufs Handy geschickt, bis zu 15 Mal pro Tag."
Daheim würde sie dann schleunigst in den Keller fliehen. "Durch die Nähe zur Front bleiben uns jeweils nur sechs Minuten, um uns vor den Raketen in Sicherheit zu bringen", sagt sie. Doch gerade mit einer Schulklasse sei das nicht immer einfach und man wisse nie, wie lange der Angriff dauert.
An einen davon erinnert sie sich besonders. "Es war am 27. Juni 2022", sagt Vlada, "ich war mit einer Gruppe Sechsjähriger in der Nähe einer Einkaufsmall unterwegs, die Ziel einer großen Bombe war." Sie flohen vor der Explosion, aber die Scheiben zerbarsten in Millionen von Glassplittern, sie und alle Kinder wurden verletzt. "Wir waren davon so geschockt, dass wir den Schmerz zunächst überhaupt nicht spürten", sagt Vlada, "der setzte erst viel später ein".
Begeistert und fröhlich trotz Kriegserfahrung
Das trifft vermutlich generell auf den Umgang vieler Ost-Ukrainer mit ihrer lebensbedrohlichen Situation zu. Die beiden jungen Frauen erzählen so gefasst von der Lage in ihrer Heimat, als hätten sie Angst und Schmerz abgespalten. Die Begegnung in Görlitz/Zgorzelec mit den Vorträgen, Führungen, Ausflügen und neben archäologischen auch Theater-, Film- und Graphic-Novel-Workshops erleben sie genau wie die anderen Teilnehmer voller Begeisterung.
Und wenn an den Abenden in der Herberge Peregrinus auf der Langenstraße international gekocht wird und sich die Jugendlichen über ihre Erfahrungen und die Eigenheiten ihrer Länder austauschen, sind die Ukrainer ebenso fröhlich wie die Italiener, Polen und Deutschen.
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"Es ist eine tolle Atmosphäre hier, und es gibt so viel zu erfahren", sagt Julia, "alle sind offen und interessiert, auch an der Situation in der Ukraine, von der wir der Welt erzählen wollen." Sie hatte sich für die Teilnahme entschieden, weil sie ihr Englisch verbessern und neue Leute kennenlernen wollte. Die Lehrerin Vlada sagt, sie habe ihren Horizont erweitern und mehr über den Zweiten Weltkrieg erfahren wollen. "Ich bin auch hergekommen, um mal etwas anderes zu erleben", sagt sie, "und froh, in einem sicheren Land zu sein".
Abschlussveranstaltung öffentlich
An diesem Freitag endet das Worcation-Camp mit einer öffentlichen Veranstaltung. Ab 12 Uhr führen die Jugendlichen übers Gelände, berichten von den Ausgrabungen und zeigen ihre archäologischen Funde: darunter ein Fernglas, einen großen, wieder zusammengesetzten Tontopf, einen Siegelring mit französischen Wappenelementen und Identifikationsmarken zweier Soldaten.
Auch das Theaterstück und die Graphic Novel zum Thema "Propaganda und Disinformation" werden präsentiert sowie der Film, an dem Vlada mitgewirkt hat, bevor sie und die anderen wieder in ihre Heimatländer zurückkehren.
Abschluss in der Stalag-Gedenkstätte: 11. August, 12 bis 14 Uhr, Eintritt frei