Hängepartie im Görlitzer Waggonbau

Einmal in der Woche brüten Kufsteiner Studenten über den Problemen des Görlitzer Waggonbaus. Sie sind dann per Videokonferenz mit den Experten der Görlitzer Initiative "Standorterhalten" zusammengeschaltet. Und in ein paar Wochen werden sie sogar für einige Tage nach Görlitz kommen.
Diese Studenten von der Fachhochschule in Tirol, gleich hinter der Grenze zu Deutschland gelegen, studieren Restrukturierungsmanagement. In der Woche arbeiten sie in ihren Berufen, Freitagmittag, so erzählt Markus Exler, kommen sie an die Hochschule und bleiben bis Sonnabend. Sie stehen mitten im Leben, haben alle einen Beruf, teilweise Familie, viele sind über 30 Jahre alt. Ihr Studium über vier Semester führt zu einem Masterabschluss. Jetzt sind sie im zweiten Semester, in dem sie Strategiekonzepte für Unternehmen entwickeln sollen. Das tun sie nun für den Waggonbau-Standort.
Markus Exler ist über das Grantiro-Netzwerk zu der Aufgabe gekommen. Er selbst ist Professor an der Fachhochschule, hat seit 2006 Studiengänge entwickelt. Anfangs wurde nur Insolvenzmanagement gelehrt, heute aber geht es nicht um Abwicklung von traditionsreichen Firmen und Standorten, sondern um deren Neuaufstellung. Vor dieser Aufgabe, da ist sich Exler sicher, steht auch der Görlitzer Waggonbau.
Prominente Unterstützung aus der Branche und Politik

Dem Görlitzer Grantiro-Niederlassungschef Christoph Scholze spricht Exler aus dem Herzen. Für ihn ist klar, dass es darum gehen muss, neue Ideen für das Werk zu entwickeln, die für viele Investoren wieder attraktiv sind.
Als er zusammen mit dem früheren Görlitzer Waggonbau-Standortleiter Carsten Liebig Anfang des Jahres seine Initiative "Standorterhalten" startete, da war nicht sicher, ob sich viele ihr anschließen würden. Mittlerweile sind diese Sorgen zerstreut. 110 Mitarbeiter des Waggonbaus - ehemalige und heutige -, Politiker, Unternehmer, Görlitzer, Experten aus der Schienenfahrzeugbranche unterstützen das Projekt.
So hat Corinna Salander, Direktorin des Deutschen Zentrums für Schienenverkehrsforschung in Dresden, das als eigenständiges Bundesinstitut beim Eisenbahn-Bundesamt angesiedelt ist, im sozialen Berufsnetzwerk Linkedin berichtet, dass sie sich privat in die kommunale Initiative einbringt. "Ein tolles Beispiel für einen Weg, der ein absolutes Miteinander aller Beteiligten fördern soll." Es sei ein "vorbildlicher Weg", der am Ende "hoffentlich erfolgreich" verlaufen werde.
Auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer unterstützt "die Bemühungen, die Produktion auf eine breitere Basis zu stellen". Mitarbeiterschaft und Gewerkschaften würden viele Ideen und Vorschläge beitragen. Alstom, so erklärt der Regierungschef, der zugleich auch Görlitzer Landtagsabgeordneter ist, stehe in der "Pflicht, diese Arbeit zu unterstützen".
110 erste Ideen für neue Produkte

Christoph Scholze kann Zahlen nennen. 110 erste Ideen sind in einem Workshop mit Mitarbeitern und Bürgern entwickelt worden. Sie sind in drei Gruppen unterteilt: neue Produkte, Produkte mit Bezug zur Schiene, Produkte ohne Bezug zur Schiene.
Hotelzüge, Züge für Krisengebiete, die Strom- und Wasserversorgung sicherstellen oder auch die medizinische Versorgung, Themenwagen als rollende Fitnessstudios oder für Familien, die Ausschlachtung von alten Zügen der Deutschen Bahn, die Umrüstung von Bussen oder Müllfahrzeugen auf CO2-freie Antriebsmittel, ein Prüfstand für die Erprobung neuer Schienenfahrzeuge, die Ausstattung von Zügen mit Solarzellen an der Außenwand der Waggons - all das ist in der Spinnstunde Thema gewesen. "Wir streben 300 Ideen an, aus denen wir die besten weiterentwickeln", sagt Scholze.

Uwe Garbe, IG-Metall-Chef von Ostsachsen, findet alle Anstrengungen wichtig, die helfen, den Görlitzer Standort und die Arbeitsplätze zu erhalten. Er steht auch in Kontakt mit Grantiro-Mitarbeiter Christoph Scholze. Doch in allererster Linie wollen die Gewerkschaften erst einmal wissen, was Alstom vorhat, wie die Strategie des französischen Konzerns aussieht.
Alstom entwickelt Zukunftspapier für Görlitz
Seit der Ankündigung Mitte Dezember, Hunderte Arbeitsplätze in der Oberlausitz und allein 400 in Görlitz abzubauen, hat es bis auf erste Gespräche noch keine Verhandlungen gegeben, sagt Garbe. So sei nicht klar, welcher Standort welche Kompetenz behalten soll. Mit 450 Arbeitsplätzen ist selbst der Wagenbau in Görlitz kaum noch so leistungsfähig, um langfristig erhalten zu bleiben. Das sieht man auch gegenwärtig. Die Auslastung des Werkes ist selbst für diese Zahl von Stellen mit Straßenbahnaufträgen zu gering. Instandhaltungsaufträge sollen die Lücken schließen, denn Aufträge für Neubauten sind schon seit Monaten nicht mehr in die Bestellbücher von Alstom oder zuvor Bombardier für das Görlitzer Werk eingegangen.

Wie der seit Anfang des Jahres amtierende Werkleiter Jens Koep dem MDR erklärte, werde gegenwärtig ein Zukunftskonzept für das Görlitzer Werk erarbeitet. Details sind aber bislang nicht durchgesickert. Auch beim Besuch von Alstom-Chef Henri Poupart-Lafarge in Görlitz war darüber nichts zu erfahren. Die deutsche Alstom-Tochter in Berlin bestätigte gegenüber der SZ noch nicht mal den Besuch, geschweige denn, dass sie auf weitergehende Fragen reagierte. Doch scheint die Stimmung beim Besuch von Poupart-Lafarge gut gewesen zu sein angesichts der Umstände. Doch mehr Klarheit für die momentan 830 Beschäftigten gab es nicht.
Konzept für Alternativen für den Görlitzer Waggonbau
Trotz dieser Unsicherheiten aber sehen Garbe wie auch Betriebsratsvorsitzender René Straube vor allem Alstom jetzt am Zuge. Straube, der auch dem Gesamtbetriebsrat der deutschen Alstom-Tochter vorsteht, erklärte gegenüber dem MDR: "Wir bauen Rohbauten und Wagenkästen aus Stahl, Edelstahl und aus Aluminium. Dazu brauchen wir Produktzuweisungen und auch konkrete Marktzuweisungen." Schon im Dezember sagte Straube gegenüber der SZ, er sehe die Zukunft des Görlitzer Waggonbaus bei Alstom. Konsequenterweise arbeitet aus dieser Sicht der Betriebsrat auch nicht bei der Grantiro-Initiative mit, das bestätigt Straube gegenüber der SZ, findet aber die Initiative grundsätzlich gut.
Für dieses Abwarten der Belegschaftsvertreter hat Christoph Scholze zunehmend weniger Verständnis. Frühzeitig hatte er dafür plädiert, Alstom ein faires Angebot zur Übernahme des Görlitzer Standortes zu unterbreiten - und den Konzern zugleich zu verpflichten, sich an dem Umbau zu beteiligen.
Scholze hatte einen ähnlichen Prozess 2017/2018 als Betriebsrat im Görlitzer Siemens-Werk begleitet, als der Münchner Konzern die Dampfturbinenproduktion in Görlitz stilllegen wollte. "Ich kann nur sagen, jede Alternative verbessert die Verhandlungsposition massiv", sagt Scholze über die Lehren dieses Kampfes, an dessen Ende der Erhalt des Standortes und neue Produktentwicklungen standen, auch wenn der Aderlass des Werkes auch unter Siemens Energy weitergeht.

Scholze, mittlerweile Innovationsmanager, hat ein 14-seitiges Konzept an Alstom für die Weiterentwicklung des Görlitzer Standortes geschickt. Es sieht verschiedene Module vor, nachdem der Standort an neue Eigentümer übergegangen ist. Das erste ist eine Grundauslastung für 450 Mitarbeiter durch Alstom-Aufträge, für die sich der Konzern auf fünf Jahre verpflichten müsste. Warum sollte der Konzern das tun? Weil es ihm billiger kommt, als 400 Mitarbeiter abzubauen. Für dieses erste Modul gibt es auch Investoren.
Ein zweites Modul besteht aus den neuen Ideen, aus denen in den kommenden Jahren zukunftsträchtige Produkte und Arbeitsplätze entstehen sollen. Dafür ließen sich auch Investoren gewinnen, sagt Scholze, aber andere als für das erste Modul - Familieninvestoren zum Beispiel. Zudem bekommt Scholze Anfragen von Firmengründern aus der Mobilitäts- und Energiebranche.
So sollen in einem mittelfristigen Zeitraum die 830 Stellen von heute gesichert werden. In der Zwischenzeit, bis die neuen Produkte entwickelt sind, müssten die Mitarbeiter bei der Stange gehalten werden, notfalls auch mit Steuergeldern.
Welche Strategie setzt sich am Ende durch
Dass es derzeit schwierig ist, eine Aufbruchstimmung zu vermitteln, liegt auch an anderen Entwicklungen. So fand vor Ostern bei der noch unter Bombardier aus dem Waggonbau ausgegliederten BSG Components GmbH & Co eine Mitarbeiterversammlung statt. Sie hatte die Teileproduktion übernommen und liefert Blechtafeln und Holzbretter für Kästen oder Konsolen in Doppelstockwagen oder Straßenbahnen. Außerdem plante BSG-Chef Mike Klaus Barke im Gewerbegebiet Schlauroth ein 3-D-Druck- und Servicezentrum für die Bahnindustrie aufzubauen. Die Ausgründung noch zu Bombardier-Zeiten galt als große Hoffnung. Doch das alles ist infrage gestellt, die BSG ist in Insolvenz, die Rede ist von Entlassungen.
Trotzdem lassen Carsten Liebig und Christoph Scholze nicht locker. Und so weit entfernt sind ihre Standpunkte von denen der Belegschaftsvertreter auch nicht. Beide wollen so viele Arbeitsplätze wie möglich am Waggonbau-Standort erhalten. Und beide wollen mit Alstom verhandeln. Nur ihre Strategien passen noch nicht zusammen.