So viel Abstand hielten die Siemensianer selten bei einer Arbeit-Niederlegung ein. Doch Corona bedingt versammelten sich am Mittwochmittag rund 350 Mitarbeiter der Siemens-Belegschaft vor dem Görlitzer Werk mit Mundschutz und in Zwei-Meter-Abstand. Die IG Metall, die zum Warnstreik aufgerufen hatte, um ihre Forderungen nach höheren Löhnen und sicheren Arbeitsplätzen in den laufenden Tarifverhandlungen Nachdruck zu verleihen, ließ sogar weiße Dreiecke auf die Lutherstraße aufsprühen, damit jeder wusste, wo er sich hinzustellen hat.
Azubis kämpfen für ihr Ausbildungszentrum

Magnus Biele fand seinen Platz schnell. Zusammen mit noch zwei Auszubildenden trägt er ein großes Banner, mit dem er den Erhalt des Ausbildungszentrums im Görlitzer Siemens-Werk fordert. Der 18-Jährige aus Rietschen begann seine Ausbildung als Industriemechaniker unmittelbar nach dem Abschluss des Zukunftspaktes für das Görlitzer Siemens-Werk. Damals hofften alle, dass nun gute Jahre für das Görlitzer Turbinenwerk folgen werden.
Bieles Familie ist eng mit dem Werk verbunden, viele Familienmitglieder arbeiten hier. So stand es für ihn nach einem Praktikum auch fest, bei Siemens in die Ausbildung zu gehen. Für ihn dürfte sich mit der beabsichtigten Schließung noch nichts ändern. Seine Ausbildung kann Biele in Görlitz beenden, doch spätestens 2025 soll das Trainingscenter geschlossen werden.
Das empfindet Biele genauso als Affront wie David Straube. Vor dreieinhalb Jahren stand er schon einmal auf der Straße. Damals an der Siemens-Kreuzung. Auch seinerzeit wollte Siemens die Ausbildung beenden, ein halbes Jahr später gar den ganzen Standort schließen. Wiederholt sich doch Geschichte? Straube, heute stellvertretender Siemens-Betriebsratsvorsitzender, sieht deswegen in der geplanten Schließung des Trainingscenters einen Anschlag auch auf das ganze Werk.
Ohne Industrie - kein Wohlstand

Damit steht er an diesem Tag nicht allein. Ostsachsens IG-Metall-Chef Jan Otto ist an diesem Mittag für die Attacke zuständig. Eigentlich wäre er längst nach Berlin gewechselt, wo er schon zum IG-Metall-Chef gewählt wurde. Da aber wegen Corona noch kein Nachfolger für Ostsachsen bestimmt werden konnte, amtiert er weiter und steht nun drei Jahre später wieder vor dem Siemens-Tor.
Die Ankündigung nicht nur das Ausbildungszentrum zu schließen, sondern bis 2025 auch noch weitere 127 Stellen in Görlitz zu streichen, ist für ihn die berühmte Salami-Taktik. "Stück für Stück wird nachgeholt, was 2018/19 nicht gelang", vermutet Otto. Doch das würden sich die Siemensianer nicht gefallen lassen. "Wir haben den Standort nicht gerettet, um uns jetzt verarschen zu lassen", sagt Otto in derber Gewerkschafter-Manier.

Zugleich gibt Otto der tiefen Verunsicherung Ausdruck, was denn ohne Industrie aus der Region werden solle. Gerade das Turbinenwerk liefere mit seinen dezentralen Anlagen die Technik, die für die Energiewende nötig sei. Und das weltweit. Der Innovationscampus solle neue Technologien wie den Wasserstoff entwickeln. Doch noch seien keine neuen Stellen dadurch entstanden.
Waggonbau und Siemens planen Kooperation bei Ausbildung

Auch die Betriebsratsvorsitzenden des Görlitzer Siemens-Werkes und des Waggonbaus, Ronny Zieschank und René Straube, treibt diese Sorge um. Beide Werke stecken nach Eigentümerübergängen in einer Neuorientierung, beide Werke haben bereits viele Stellen gestrichen. Bei Siemens hieß das Ziel bis Anfang Februar 750, beim Waggonbau sind sie noch 950. Wenn weitere Stellen gestrichen werden sollten, so Zieschank, dann sind alle Zukunftspläne in Gefahr. Deswegen drängt er auch den Vorstand von Siemens Energy dazu, mit Taten zu zeigen, dass er hinter dem Zukunftspakt für Görlitz steht. Und das heißt, zusätzliche Investitionen in den Innovationscampus zu stecken.
Auch Straube sieht vor allem die Auswirkungen auf die Region. Die Ankündigung, die Ausbildung bei Siemens zu beenden, kommt gerade in dem Moment, wo Waggonbau und Siemens enger bei der Ausbildung zusammenarbeiten wollten. Auch externe Firmen sollen künftig eigentlich bei Siemens ihren Nachwuchs in die Lehre schicken können. Deswegen sieht der Siemens-Betriebsrat das Ausbildungszentrum auch als einen Eckpfeiler des Standorts. Magnus Biele sieht das genauso. "Eine der letzten großen Ausbildungsstätten fällt dann weg". Und dann?