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Mehr Freundlichkeit, weniger Stress: Warum zwei Dresdner nach Kamenz gezogen sind

Julia Blaik und Alexander Pritzkow arbeiten in Dresden und haben dort auch gewohnt. Nun sind sie in Kamenz heimisch geworden. Was sie hier lieben und wie sie Anschluss fanden.

Von Torsten Hilscher
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Von Dresden in die Westlausitz: Julia Blaik und Alexander Pritzkow haben der Landeshauptstadt den Rücken gekehrt, um in Kamenz ihre neue Heimat zu finden. Den Schritt haben sie nicht bereut.
Von Dresden in die Westlausitz: Julia Blaik und Alexander Pritzkow haben der Landeshauptstadt den Rücken gekehrt, um in Kamenz ihre neue Heimat zu finden. Den Schritt haben sie nicht bereut. © Matthias Schumann

Kamenz. Wie bringt man den eigenen Eltern seinen Umzug in eine andere Stadt möglichst schonend bei? Etwa so: "Wir haben sie an meinem Geburtstag zum Essen ins Hutbergrestaurant eingeladen und nach einem Bummel gesagt: ,Jetzt geht's noch in ein hübsches Café hier am Park'", erzählt Julia Blaik und schaut aus dem Fenster. Dort, wo sich gerade abendliches Dunkel über den Hausberg von Kamenz breitet. Das "Café" entpuppte sich als die neue Wohnung der Tochter. Schön gelegen direkt an besagtem Hutberg, in einer Villa. Beletage, wie die Eltern erfuhren, die aus dem heimatlichen Wilthen angereist waren.

Dass die Tochter und ihr Partner gar nicht mehr in Dresden wohnen, wussten sie bis dahin nicht. Eine echte Überraschung - wie überhaupt dieser Ortswechsel. Suchen doch Paare in bestem Alter wie Julia Blaik und Alexander Pritzkow eher eine solche Stadt mit all der Kultur, Vielfalt, solch unvergleichlicher Stadt-Landschaft.

In der Coronazeit durch Beschränkungen Enge verspürt

Hier verhält es sich andersherum. Obwohl beide nach wie vor in Dresden arbeiten. "Das war ein Prozess, der in der Coronazeit entstanden ist. Wo man auch durch die Beschränkungen Enge verspürt hat", sagt Alexander Pritzkow. "Da haben wir uns selbst befragt: zum Umfeld, zum Privatleben, zum Berufsleben. Zum Aspekt: Was ist Heimat."

Beide sind keine gebürtigen Dresdner, lebten aber viele Jahre in der Stadt. Julia Blaik kommt aus Wilthen, lernte zunächst Fachkraft für Lagerlogistik und machte hierin ihren Meister. Alexander Pritzkow fand 1995 fürs Lehramtsstudium nach Elbflorenz. Er ist gebürtiger Köpenicker mit einem noch immer erfrischenden Berliner Dialekt.

Diese Zeit des Umbruchs und Aufbaus fand Pritzkow "total spannend", sagt er heute. Gerade in seinem grauen "Kiez" Pieschen habe sich die Wandlung mit jeder Haussanierung sichtbar abgebildet. "Da war man emotional dabei, hat sich richtig gefreut." Nach 20 Jahren aber sei diese Phase verständlicherweise vorbei. "Dann ist es neben den kulturellen Angeboten und der Schönheit und der Lage an der Elbe eine Großstadt wie jede andere auch. So."

Was nach "Punkt" klingt, war den Schilderungen zufolge eine Art Anfang vom Ende, eine vorsichtige Entfremdung.

Paar pendelt zwischen Kamenz und Dresden

Es begann die Zeit der gezielten Ausflüge ins Umland. Kleinstädte waren das Ziel. "Eine Festlegung gab es nicht, wir waren offen", so Julia Blaik.

Irgendwann einmal war Kamenz an der Reihe. Da passierte etwas mit ihnen. Zur Wohnung hier kamen sie durch eine Annonce, die im Grunde eine Anti-Anzeige war: ohne Fotos, zurückhaltende Beschreibung. Eigentlich war eine viel modernere Etage in Bautzen Favorit. Doch der Charme und die rührend bemühten Vermieter in der Kamenzer Villa gaben den Ausschlag.

Nun wird gependelt. Julia meist mit der S-Bahn. Alexander mit dem Auto. Julia leitet ein dreiköpfiges Team bei einem Dresdner Industrieverwerter. Alexander ist dank seines Studienwechsels zu Pädagogik-Psychologie in der Meinungsforschung gelandet und arbeitet in einem Softwareunternehmen, das Software für Steuerberater kreiert.

Inzwischen sind die beiden ein Musterbeispiel an Integration. Julia Blaik hat sich kurz nach dem Umzug im Sommer 2023 aktiv beim Kamenzer Forstfest umgetan: Sie ging auf die Schützengesellschaft zu, die sie mit offenen Armen empfing und im Grunde noch vor Ort integrierte. Seither ist sie Mitglied.

Alexander Pritzkow wiederum wandte sich an die Kamenzer Hauptkirche St. Marien. Das dortige Kantorenehepaar Pöche hat einen Ruf weit über die Stadtgrenzen hinaus. Ein Grund für Pritzkow, sich der Kantorei anzuschließen. Parallel meldete er sich bei der Volkshochschule für den Stadtführerkurs an. Zur Zeit büffelt er fleißig Daten. Im Mai 2024 ist Prüfung.

Heimatgefühl hat sich eingestellt

"Der Punkt, wo wir leben, ist hier", fasst Pritzkow zusammen. Da gebe es das in Dresden zuletzt vermisste Heimatgefühl, ein Irgendwo-ankommen-Gefühl habe sich eingestellt. Auch ein Freundlichkeitsgefühlt hätten beide in Kamenz wiedergefunden. Etwas, das ihnen in Dresden ebenfalls fehlte.

"Als wir den ersten Tag in Kamenz waren, haben wir gesagt: Mensch, die sind aber freundlich. Auch wenn sie auf den ersten Blick gar nicht so wirken. Richtig fröhlich fanden wir die Menschen. Mal ehrlich: Eine Kassiererin bei Netto, die Spaß an der Arbeit hat - wo gibt's das?! Wir haben regelrecht auf jemanden gewartet, der mal genervt ist." Zugleich bemerkten beide eine Langsamkeit in Kamenz, auf die sie sich eingestellt hätten und die sie als angenehm empfinden. Julia Blaik registriert weniger Stress.

Das Kamenzer Paar ist nicht allein mit seinem Wegzug: Zwar wuchs Dresden 2023, doch 7.400 Bürger zogen an den Stadtrand oder darüber hinaus. Zuzüge aus dem Umland gegengerechnet, musste die Landeshautstadt 2023 beim ortsnahen Umzug ein Minus von 1.400 Personen verbuchen. Ein Jahr zuvor, also 2022, lag die Zahl sogar bei 3.100 Menschen. Erst mit den großen neuen Firmenansiedlungen im Dresdner Norden dürfte sich dieser Trend eventuell wieder umkehren.