Nur elf Jahre nach dem verheerenden Bombenangriff auf Dresden am 13. Februar 1945 stand die Stadt erneut auf einer „Todesliste“: Sie gehörte zu den 500 in einer Tabelle aufgezählten Orten in der DDR, die im Falle eines Nuklearkrieges als Ziel amerikanischer Atomwaffen vorgesehen waren. Der Kalte Krieg hatte sich längst wieder erhitzt, die Liste datiert auf 1956, also in die nur scheinbar konfliktfreie Phase zwischen Koreakrieg, Kuba-Krise und Vietnamkrieg, als der exzessive Rüstungswettlauf der Supermächte USA und Sowjetunion auf seinen Höhepunkt zulief.
Beide sollten bald in der Lage zum „Overkill“ sein, also die Kapazität haben, den Gegner mehrfach zu vernichten. „Overkill“ wurde zum Synonym der größtmöglichen Katastrophe, und zugleich zur Chiffre für die bipolare „Sinnlosigkeit“ jenes Wettlaufs der Abschreckung.
Die Angst vor Atomschlägen ist wieder da
„Overkill“ heißt auch die neue Sonderausstellung im Militärhistorischen Museum (MHM) der Bundeswehr zu Dresden, deren Bestandteil die genannte Liste ist. Als sie vor vier Jahren konzipiert wurde, war die Angst vor Atomschlägen, mit der Menschen in Ost und West jahrzehntelang aufgewachsen sind, nur noch eine gruselig-nostalgische Erinnerung. Nach dem Februar 2022 jedoch hat der russische Eroberungskrieg gegen die Ukraine samt Wladimir Putins regelmäßiges Spiel mit Atomschlag-Drohungen diese Angst wiederbelebt.
Sie ist als gängiges Argument im Streit um deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine sogar zum hochpolitischen Faktor geworden. Was wiederum auch die Ausstellung „Overkill“ sozusagen nachträglich politisiert, ohne deren eigenes Zutun. Doch sie ist in höchstem Maße sorgfältig gearbeitet und allein durch ihr Thema ohnehin politisch konnotiert, aber eben nicht ideologisch – ein wichtiger Unterschied.
Der Rüstungswettlauf hat die Gesellschaften verändert
Nicht mal die letztlich wohl erstaunlichste und am provokantesten klingende Erkenntnis der Ausstellung hat trotz ihres Inhalts Haltungsschlagseite: Ohne Rüstungswettlauf hätte sich auch unsere Gesellschaft wohl anders entwickelt. Aus dem großen Vorteil des MHM hätte leicht ein Nachteil werden können: Zum Thema Kalter Krieg hat es zahllose Exponate in seinen Beständen aus der Geschichte von Bundeswehr sowie Nationaler Volksarmee.
Und da Ausstellungsmacher auch Jäger und Sammler sind und gerne viel „Beute“ präsentieren, hätte die Schau leicht selbst in einen Material-Overkill münden können. Doch die Kuratorinnen und Kuratoren Jens Wehner, Katja Hartmann und Götz Ulrich Penzel versammeln im Hauptsaal zwar sehr viele, aber haarscharf nicht zu viele Objekte. Niemand wird von den Exponaten erschlagen, die die Haupterzählung von „Overkill“ illustrieren, ohne sie zu überblenden.
NS-Forscher arbeiteten nach 1945 für USA und UdSSR
Gleich zu Anfang stellt die Ausstellung klar, dass der Kalte Krieg nicht nur politisch, vielmehr auch technologisch die direkte Fortsetzung des heißen war. Waffen und Techniker des Nationalsozialismus wie die Rakete V2 und Wernher von Braun sowie der spätere Professor an der TU Dresden, Werner Albring, wurden von den USA ebenso wie von der Sowjetunion „kassiert“ und weiterentwickelt.
Manche Forscher gingen freiwillig wie Braun, manche gezwungen wie Albring. „Overkill“ zeigt die russische Babywiege von Franz Söldner, der als Sohn eines Jenaer Wehrmachtstechnikers in der Internierung nahe St. Petersburg geboren wurde.
Angstmildernde Verweise auf die "gute" Atomenergie
Mit „Das Rennen“ ist der zweite Abschnitt selbsterklärend übertitelt. Er wirft Schlaglichter auf den Atomwettstreit, der lange für die Öffentlichkeit und wohl auch von der Politik selbstbetrügerisch abgemildert wurde durch den Fokus auf die „gute“ Atomenergie und die Überlebbarkeit eines Nuklearschlages, für dessen Handling man den Soldaten von NVA und BW ebenso Aufklärungsmaterial zugutekommen ließ wie der Bevölkerung.
Regelrecht staunen darf man angesichts der Turbine, die das russische Jagdflugzeug MIG 15 gegenüber der US-Konkurrenz zunächst so überlegen machte im Koreakrieg: Sie stammt aus dem Rolls Royce Werk, also von den britischen Verbündeten der USA. Doch selbst dort, wo es arg militärtechnisch zugeht, folgt die Ausstellung mal locker, mal enger der Generalerzählung des MHM, dem es ja um die Kulturgeschichte der Gewalt geht, also in diesem Falle auch um den Niederschlag des Kalten Krieges in die Gesellschaft und die Künste.
Der Bikini wurde benannt nach einem Atom-Testgebiet
Da dürfen Plakate von Filmen wie „Godzilla“ freilich nicht fehlen. Schließlich war diese seit den Fünfzigern weltpopuläre japanische Monster-Reihe eine direkte Verarbeitung der Traumata von Hiroshima und Nagasaki. Romane über den Kalten Krieg entstanden, Popsongs und Mode: Jeder weiß, was ein Bikini ist. Aber kaum jemand, dass er benannt wurde nach dem jenem Atoll im Pazifik, über dem die USA jede Menge Atombomben explodieren ließen.
Im Rückblick scheint es beinahe erstaunlich, dass der Wettlauf der Supermächte nur 15 Jahre nach seinem Beginn einen Karriereknick erlebte: „Grenze“ heißt das Ausstellungskapitel dazu. Als wesentliche Grenzsteine führt „Overkill“ die geopolitisch entscheidende Kuba-Krise 1962 an, wobei der Mauerbau ein Jahr zuvor verdeutlicht, welches Problem sich auch geografisch ergeben hatte.
Die beiden Deutschlands wären als Erste "dran" gewesen
Beiderseits setzte sich die Erkenntnis durch, dass man all die Atomraketen nicht wirklich einsetzen konnte, wie es heute heißt. Denn jeder Erstschlag der einen Seite hätte eine Antwort der anderen bedingt, und die Sowjetunion hatte ebenso längst ihre Ziele in Westeuropa markiert wie die USA auf jener Liste von 1956. Die beiden Deutschlands, das war in DDR und BRD gleichermaßen klar, wären als Erste ausgelöscht worden.
Die großen Brüder hielten trotz des 1963 geschlossenen Atomtestabkommens – dem ersten von mehreren Begrenzungsverträgen – an der Strategie der flexible response fest. Das blieb so, obwohl die USA in Vietnam erkannten, dass sie eine primitiv bewaffnete Bauernarmee im Guerillakampf mit modernsten Mitteln nicht besiegen konnten.
Techno-Fortschritt führte zu Umweltschutz und Klimafrage
Die konventionelle waffentechnologische Entwicklung kam zum faktischen Stillstand. Auch der andere Fortschritts-Booster, die Raumfahrt: Weiter als seit 1969 zum Mond schaffen es bemannte Objekte bis heute nur im Kino. Dennoch ging das Wettrüsten weiter und wurde nicht zum Hauptgrund, aber zu einer Ursache von mehreren für den Zusammenbruch der Sowjetunion. „Overkill“ indes schreitet über diesen Aspekt mehr oder weniger hinweg.
Anders gesagt: Die Schau verlegt den Schwerpunkt ihrer Erzählung vollends in Forschung und Gesellschaft hinein und findet zu ihrer bereits erwähnten, womöglich bemerkenswertesten These. „Es setzte ein grundlegend anderes Verständnis von Technik ein“, so der leitende Ausstellungskurator Jens Wehner. „Vordergründig handelte es sich um politische Kämpfe. Doch Umweltschutz, Klimafrage und Atomkraftstreit waren letztlich Diskurse über Technik und deren Folgen.“
Computer, Handy, Internet - alles basiert auf Militärtechnik
Zugespitzt könnte man mithin formulieren: Es kam zu einem Wertewandel, mindestens zu einer Werte-Erweiterung, ausgelöst durch Technologie. Tatsächlich blieben militärische Forschungen die Treiber für Neuerungen, die sich immer stärker auf die Menschen auswirkten. Luftverschmutzung, Ozonloch, Klimawandel – ohne Messtechnik gäbe es kein Wissen darüber, damit auch keine Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung in diese Richtung, so die These von „Overkill“.
Wie tief die Gesellschaft in ihren Grundzügen und -funktionen durch Technologie verändert wurde, lässt sich nur erahnen. Computer, Handys, das Internet und damit die Veränderung der Kommunikation inklusive Fake News, Lügenpropaganda und Cyber War; alles basiert auf militärtechnischen Entwicklungen.
Fast alle Panzer in der Ukraine sind veraltete Konzepte
Dass davon nicht zwangsweise der Staat als Wirtschaftssystem profitieren muss, zeigt das Beispiel Russlands: Militärisch hochgerüstet – mit extremen Schwächen, wie der Ukraine-Krieg offenbart –, hat das Land bis heute kein exportfähiges Auto, keinen Fernseher, nicht mal Schürftechnologie für seine Bodenschätze entwickeln und produzieren können.
Die Gegenüberstellung von östlicher und westlicher Militärtechnik vom Helikopter bis zum Panzer auf dem Außengelände des MHM demonstriert noch einmal die große Stagnation: Fast alle Systeme inklusive der im Ukrainekrieg so begehrten Panzerhaubitze und des Leopard basieren auf Konzepten der Sechziger und Siebziger. Mehr noch als das zeigt die Rückkehr der Atomschlagdrohung, dass der Kalte Krieg 1990 offenbar doch nicht vorbei war. Er hat nur für eine Weile pausiert. So besehen, hat der 24. Februar 2022 auch „Overkill“ letztlich von einer Vergangenheits- zur Gegenwarts-Schau gemacht.
„Overkill. Militär, Technik, Kultur im Kalten Krieg“: bis zum 30. Juni 2024 im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr, Olbrichtplatz 2, Dresden