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Leipziger Buchmesse startet mit einem "Café der verlorenen Seelen"

Österreich ist dieses Jahr das Gastland. Passend dazu führt Robert Seethalers neuer Roman ins Wien der 60er-Jahre.

Von Rainer Kasselt
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Das Logo der Leipziger Buchmesse auf einer Treppe in der Glashalle der Messe.
Das Logo der Leipziger Buchmesse auf einer Treppe in der Glashalle der Messe. © dpa-Zentralbild

Der Gelegenheitsarbeiter Robert Simon, 31, traut sich was. Er pachtet eine verlotterte Gastwirtschaft, reißt die Tapeten runter und eröffnet 1966 auf dem Wiener Karmelitermarkt sein Café. Er gibt ihm keinen Namen. „Gasthaus Simon“ käme ihm zu selbstgefällig vor. Das Angebot ist überschaubar: Kaffee, Bier, Limonade, Himbeersoda, Wein. Dazu Schmalzbrot und Salzgurken. Das Viertel ist arm, Gäste kommen dennoch. Schichtarbeiter, Händler, Näherinnen, Ruheständler, Witwen. Sie kommen, um wenigstens für ein paar Stunden „den ganzen Schlamassel um sie herum zu vergessen“. Sie suchen Gesellschaft, möchten ihre Sorgen und Sehnsüchte mit anderen teilen.

Am Mittwoch erscheint pünktlich zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse mit dem Gastland Österreich Robert Seethalers neuer Roman „Das Café ohne Namen“. Die Bücher des 56-jährigen Wiener Bestsellerautors wurden in über 40 Sprachen übersetzt. Der Roman „Ein ganzes Leben“ über das klaglos ertragene Dasein eines Bergbauern stand auf der Shortlist des internationalen Booker-Preises.

Robert Seethalers neuer Roman „Das Café ohne Namen“ spielt wie sein bekanntestes Werk „Der Trafikant“ in seiner Geburtsstadt Wien. Zur Buchmesse kommt Seethaler jetzt auch nach Leipzig.
Robert Seethalers neuer Roman „Das Café ohne Namen“ spielt wie sein bekanntestes Werk „Der Trafikant“ in seiner Geburtsstadt Wien. Zur Buchmesse kommt Seethaler jetzt auch nach Leipzig. © Ullstein Verlag

Seethalers schnörkellos und lakonisch erzählten Bücher drehen sich im Grunde genommen um eine Frage: Wie führt man ein anständiges Leben? Er richtet sie weniger an die Gesellschaft, mehr an den Einzelnen. Ihn interessiert der „Seelenzustand der Menschen“. Er schreibt über Liebe, Verlust, Einsamkeit, Tod und unverhofftes Glück. Robert Seethaler zieht es zu den sogenannten kleinen Leuten, ihnen fühlt er sich verbunden. So einem wie Robert Simon. Nicht zufällig haben beide denselben Vornamen. Simon, Jahrgang 1935, wächst als Waisenkind nach dem Krieg in einem Heim auf. Der Vater fiel den „Heldentod im Lazarett“, die Mutter starb früh. Mit fünfzehn verlässt Simon die Schule, da es an gesunden Männern mangelt, findet er rasch Arbeit. Er füllt Bombentrichter mit Schutt, klopft Eisen aus den Ruinen, ist Abräumer in den Pratergärten.

Vielleicht träumte er damals schon davon, hinter dem Tresen eines eigenen Gasthauses zu stehen. Bei der Kriegerwitwe Pohl bezieht er ein schmales möbliertes Zimmer „bei Bedarf mit Frühstück“. Simon, ein hagerer Mann mit langen dünnen Beinen, ist kein Frauentyp, hat keine Freundin, obwohl Sehnsucht danach wie „eine feine Entzündung in seinem Herzen“ schwelt. Prima versteht er sich mit der arbeitslosen Hilfsnäherin Mila, einer kleinen, runden und patenten Person, die er als Servierkraft einstellt. Er ist zufrieden mit seinem Leben. Das Café läuft mal gut, mal weniger. Es gibt Durststrecken, auch Ärger mit betrunkenen Skatbrüdern. Ein Heizkessel explodiert, dabei büßt Simon drei Finger ein. Er macht kein Gewese daraus, steckt Rückschläge weg, hilft anderen aus der Patsche. Man könnte ihn den guten Menschen vom Karmelitermarkt nennen.

„Jeder zweite Wiener ist ein Nazi.“

Atmosphärisch dicht und sozial präzise beschreibt Seethaler das Milieu dieses Wiener Viertels. Rund ein Dutzend Figuren, Stammgäste des Cafés, werden episodisch vorgestellt. Manche knapp, andere stärker ausgemalt. Biografien von Menschen, die nicht auf der Sonnenseite leben, aber Sonne im Herzen tragen. Menschen, die nicht an Aufstand oder Revolution denken, die genug damit zu tun haben, ihr Leben zu meistern. „Die Gegenwart ist ein Geschwür“, heißt es im Roman, der reich an Sentenzen und Anspielungen auf Österreichs Geschichte ist.

Eine Frau sagt: „In Wien kommt auf jeden Pflasterstein ein Totenschädel.“ Zwei unterhalten sich über einen Nazi, der nach dem Krieg sein Hakenkreuz mit der Rohrzange zum Jesuskreuz umbog. Das habe nichts zu sagen, entgegnet der andere: „Jeder zweite Wiener ist ein Nazi.“ Seethaler besitzt die Fähigkeit, in Menschen hineinzuhorchen, deren Innerstes nach außen zu kehren. Manchmal sehr gefühlig, nah am Kitsch, oft mit feinem Humor.

Wo eheliche Treue nichts gilt

Zwei ältere Damen erinnern sich beim Gumpoldskirchner wehmütig an die Jugend. „Da hat ein Kuss unter der Laterne noch genügt für ein ganzes Glück.“ Der kinderreiche Fleischermeister zuckt mit den Schultern: „Vor der Liebe sind wir alle Idioten.“ Und meint: „Es kommt und geht sowieso alles, wie es will.“ Eine Ansicht, die für viele Seethaler-Figuren gilt.

Von ehelicher Treue hält der aus Russland stammende Kunstmaler Mischa nichts. Seine Frau, eine fünfzehn Jahre ältere Käsehändlerin, rast vor Eifersucht und schreit das ganze Café zusammen, wenn sie ihn mit einer Jüngeren erwischt. Spät die Reue des alleinlebenden Fischhändlers: „Oft weiß man erst, was man gehabt hat, wenn es weg ist.“

Auf jeder Seite lauter Leben, lauter Schicksale. Robert Simon verliert nach zehn Jahren sein Café. Der Eigentümer des Hauses ist pleitegegangen. „Schulden sind wie der Krebs“, sagt er. „Fressen einem Stück für Stück das Leben weg.“ Die neuen Besitzer verlängern Simons Pachtvertrag nicht. „Für einen wie dich“, sagt der Fleischermeister, „gibt es immer Arbeit.“ Die Solidarität der „verlorenen Seelen“, wie Simon seine Gäste nennt, ist das, was bleibt von diesem herb-süßen Roman.

  • Robert Seethaler: Das Café ohne Namen, Claasen Verlag, 284 Seiten, 24 Euro
  • Robert Seethaler auf der Leipziger Buchmesse: Lesung und Gespräch am 27.4., 11 Uhr, 17 Uhr und am 28.4., 16 Uhr, in der Stadtbibliothek am 27.4., 19 Uhr