Warum ein feministischer Blick auf den DDR-Volksaufstand von 1953 wichtig ist
Am 17. Juni 1953 haben unzählige DDR-Bürgerinnen und Bürger die Nase voll. An vielen Orten gehen sie auf die Straßen, konkreter Anlass sind überhöhte Arbeitsnormen, der Hauptgrund aber die Verhältnisse in dem jungen „sozialistischen“ Staat, die diktatorische Unterdrückungspolitik der SED. An diesem und am folgenden Tag werden überall in Betrieben Streikkomitees gegründet. Als der Versammlungsleiter im Elektromotorenwerk Wernigerode um Freiwillige bittet, ertönt aus der Belegschaft auch ein weiblicher Name.
„Das ist Männersache“, wehrt der Vorsitzende ab, „keine Frauensache!“ Worauf man auf dem Tondokument der Versammlung eine zweite Männerstimme hört: „Kollege, du bist noch rückschrittlich. Auch eine Frau kann für ihre Rechte eintreten!“ Es ist eine Schlüsselstelle in der TV-Dokumentation „Aufstand der Frauen“ über den 17. Juni 1953, gedreht von der gebürtigen Dresdnerin und Grimme-Preisträgerin Sabine Michel.
Sozialisierung des Deutschen Reiches wirkte noch in DDR
Seit Jahren sind die Frauen in der DDR und Ostdeutschland ihr großes Thema, und ihre neueste Arbeit zeigt erneut, vielleicht sogar stärker als die vorherigen Filme, warum feministische Blicke auf die Geschichte so wichtig sind und welchen Gewinn sie bringen können: Michel leistet einen Beitrag dafür, dass der DDR-Volksaufstand nach 70 Jahren nicht länger als ein allein von Männern geprägtes Ereignis im historischen Gedächtnis verankert ist, und holt die Frauen des 17. Juni aus dem Schatten der Geschichte.
Hunderttausende Frauen leiden auch in der DDR unter einer Mehrfachbelastung. Zwar werden sie, ausgehend vom Ideal der Trümmerfrau, vielfach als Heldinnen der Arbeit verklärt. Zwar legt die Verfassung der DDR 1949 ihre Gleichberechtigung und das Recht auf Arbeit gesetzlich fest und will damit die alten Rollenbilder komplett entsorgen. Doch müssen viele Frauen ihre Kinder allein versorgen, weil ihre Männer gefallen oder noch in Gefangenschaft sind, was sie oftmals an den Rand ihrer Kräfte bringt. Das wird noch verstärkt durch die Mangelwirtschaft.
"Auch eine Frau kann für ihre Rechte einstehen"
Trotz gesetzlicher Gleichstellung: Für voll genommen werden die Frauen von den meisten Männern nicht, wie auch das Beispiel des Betriebsversammlungsleiters aus Wernigerode illustriert. Kein Wunder, schließlich sind acht Jahre nach Ende des Nationalsozialismus die meisten DDR-Bürgerinnen und -Bürger noch tief geprägt von der traditionellen Sozialisierung.
„Es hat in Halle mal wieder kein Brot gegeben. Und wenn es mal Brote gibt, dann nur schlechte. Ich verlange aber besseres Brot. Auch unsere Familien wollen vernünftig essen.“ So zitiert die Dokumentation die Putzfrau Frieda Stephan aus der Waggonbaufabrik in Ammendorf bei Halle. „Aber nun ist unsere Geduld zu Ende. Und alle müssen sich endlich dem Streik der Berliner Bauarbeiter anschließen.“
Sie wollten eine bessere Zeit schaffen
Es sind Frauen wie Frieda Stephan, die Sabine Michel in Erzählungen von deren Töchtern und Söhnen oder in den Schilderungen von Historikerinnen und Historikern wiederauferstehen lässt. „Es war eine Zeit des Aufbruchs und der ganz großen Erwartungen. Und meine Mutter war überzeugt, dass sie dazu beiträgt, eine bessere Zeit zu schaffen“, erinnert sich Tanja Stern, Tochter der Journalistin Käthe Stern.
Die hatte sich, obwohl angestellt beim SED-Zentralorgan Neues Deutschland, im Juni 1953 in einem mutigen und offenherzigen Artikel auf die Seite der Bauarbeiter geschlagen. Sterns Text löst die Proteste auf der Stalinallee mit aus, was die SED-Regierung völlig überfordert: Arbeiter wenden sich in einem Arbeiter- und Bauernstaat gegen die Arbeiter- und Bauernregierung? Undenkbar!
Ulbrichts Märchen vom "faschistischen Putschversuch"
Schnell finden die Genossen um den faktischen DDR-Staatschef Walter Ulbricht eine Erklärung und deuten den Aufstand um zu einem vom Westen gesteuerten faschistischen Putschversuch. Auch in Halle, wo sich die Protestierenden zu einem mächtigen Zug versammeln, prägen zahllose Frauen das Bild. Historische Aufnahmen zeigen eine ganze Gruppe weiß gekleideter Krankenschwestern, praktisch gewandete Arbeiterinnen, etwas elegantere Verkäuferinnen, und vor allem: lächelnde Gesichter.
Die Demonstrierenden befreien auf ihrem Weg die Insassinnen des Frauengefängnisses, deren Mehrzahl wegen Bagatelldelikten einsitzt. Eine von ihnen wird zu einem Trumpf für das SED-Regime: Erna Dorn. Als sowjetische Truppen den Aufstand niederschlagen und so das SED-Regime retten, gehören auch Frauen zu den Todesopfern und Verhafteten.
Der Mythos „SS-Bestie“ Erna Dorn
Wenige werden zu Recht angeklagt wegen Gewaltexzessen, zu denen es gekommen ist. Etwa in Rathenow, wo eine Menschenmenge einen auch als Denunzianten tätigen deutschen Mitarbeiter der Sowjets gelyncht hat; Sabine Michels Film blendet auch diese Aspekte nicht aus. An den meisten Frauen aber übt man wie an den Männern politische Vergeltung für den Aufstand. Viele werden inhaftiert und verunglimpft als Asoziale oder Prostituierte – oder eben als vom Westen gedungene Strippenzieherinnen des angeblichen faschistischen Aufstandes.
Das berühmteste Beispiel dafür, dem „Aufstand der Frauen“ viel Aufmerksamkeit widmet, ist eben Erna Dorn, angeklagt, zum Tode verurteilt und in Dresden hingerichtet – angeblich. Überhaupt ist alles an ihrem Fall angeblich. Nicht einmal von dem berühmten Bild, das sie zeigen soll, ist klar, wer darauf wirklich abgebildet ist. Die SED-Justiz bastelt sich – angeblich auf Basis von Selbstzeugnissen Dorns – die Biografie einer KZ-Aufseherin, „SS-Bestie“ und ewigen Faschistin zusammen. Angeblich wird sie zum Tode verurteilt und am 1. Oktober 1953 am Münchner Platz in Dresden hingerichtet. Das Landgericht Halle hebt das Urteil 1994 auf.
Wie Stephan Hermlin zum SED-Propagandisten wurde
Doch bis heute gilt Erna Dorn vielen Menschen als KZ-Schergin. Hauptverantwortlich dafür ist der Schriftsteller Stephan Hermlin, der in seiner populären Erna-Dorn-Novelle „Die Kommandeuse“ 1954 das Märchen vom faschistischen Putsch ganz im Sinne der SED-Propaganda bekräftigt und festigt.
So bemerkenswert und relevant der Fall Dorn für die Geschichte des Volksaufstandes in der DDR war, so wenig repräsentativ ist dieses rätselhafte Schicksal für die Frauen des 17. Juni 1953. Dass Sabine Michel ihm derart breiten Raum gibt, ist dennoch berechtigt. Denn es erzählt ebenfalls viel über die Erinnerungskultur des 17. Juni, dass Frauen in ihr bislang so gut wie gar nicht vorkamen – und die einzige bekanntere weibliche Figur ausgerechnet ein Geschöpf der SED-Propaganda war, wie man es sich negativer, abschreckender und wertloser kaum vorstellen kann.
Die TV-Dokumentation „17. Juni 1953: Aufstand der Frauen“ ist in der ARD-Mediathek abrufbar.