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Steinmeier auf der Buchmesse: Seelenbalsam für die Ostdeutschen

Der Bundespräsident kritisiert den Westen als gönnerhaft, lobt junge Autoren und hört dem Streit von Ingo Schulze, Marcel Beyer und Anne Rabe über Migrationspolitik, AfD und Bomberjacken zu.

Von Karin Großmann
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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält die Rede "35 Jahre Friedliche Revolution, 75 Jahre Grundgesetz – Wie steht es um unsere Demokratie?" auf der Leipziger Buchmesse.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält die Rede "35 Jahre Friedliche Revolution, 75 Jahre Grundgesetz – Wie steht es um unsere Demokratie?" auf der Leipziger Buchmesse. © Jan Woitas/dpa

Die Politikerdichte auf der Leipziger Buchmesse ist in diesem Jahr auffällig hoch. So viel potenzielles Wahlvolk trifft man ja selten auf einmal. Manche Wähler nutzen die Begegnung lautstark. Heftige Zwischenrufe unterbrachen die Eröffnungsrede des Bundeskanzlers im Gewandhaus.

Auch der Bundespräsident brauchte am Donnerstagabend in der Alten Handelsbörse Geduld, bis eine Frau mit ihrem Protest gegen Israels Angriffe auf den Gaza-Streifen endete. Sie wurde hinausgebracht. „Noch jemand, der eine Botschaft loswerden möchte?“, fragte Frank-Walter Steinmeier.

Ordner führen eine weitere Frau zum Ausgang, die die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier "35 Jahre Friedliche Revolution, 75 Jahre Grundgesetz · Wie steht es um unsere Demokratie?" auf der Leipziger Buchmesse mit propalästinensischen Äußerung
Ordner führen eine weitere Frau zum Ausgang, die die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier "35 Jahre Friedliche Revolution, 75 Jahre Grundgesetz · Wie steht es um unsere Demokratie?" auf der Leipziger Buchmesse mit propalästinensischen Äußerung © dpa/Jan Woitas

Dann streichelte er die Seelen der Ostdeutschen. Er rühmte die Leipziger im Besonderen für Bürgersinn und Buchmesse und andere im Allgemeinen. Sie hätten den Freiheitsanspruch der Verfassung für alle Deutschen erkämpft, als sie die Mauer zu Fall brachten. In der Folge hätten sie zwar grundstürzende Erfahrungen gemacht, vielfach die Arbeit verloren, aber heute würden sie selbstbewusst mitbestimmen, wohin sich das Land entwickelt.

In einigen Bereichen der Technologie seien sie führend. Dass man Ostdeutsche vormals mit Respekt betrachtete, sei gönnerhaft gewesen aus Sicht des Westens. Bei seinen Reisen vor allem in kleinere Städte habe er viele Menschen erlebt, die anpackten – aber auch die Erschöpfung durch Dauerkrisen und die Sehnsucht nach einfachen Lösungen. Steinmeier wünschte sich den Mut und den Zusammenhalt von 1989 für die Gegenwart. Das 35-jährige Jubiläum des politischen Umbruchs und das 75-jährige des Grundgesetzes waren Anlass für die Rede.

„Wer heute Volk sagt, sind die anderen, gegen die wir auf die Straße gehen“

Besonders lobte der Bundespräsident die jungen Schriftsteller aus dem Osten. Ihre deutlich vernehmbare Stimme sei bereichernd für ganz Deutschland. Sie würden Impulse geben für gesellschaftliche Debatten. Aus der neuen Selbstverortung der jungen Generation könne man Kraft schöpfen.

Drei nicht mehr ganz so junge Autoren diskutierten über Aufbruchstimmung von damals und heute: der aus Dresden weggezogene Ingo Schulze, 61, der nach Dresden zugezogene Marcel Beyer, 58, und die aus Wismar stammende Anne Rabe, 37, die in Berlin lebt. Dass sie mitnichten mit einer Stimme sprechen, wird schnell deutlich. Schon am Wort Volk entzündet sich ein kleiner Streit. Beyer würde lieber von Bevölkerung oder von Einwohnern reden.

Frank-Walter Steinmeier bei seiner Rede.
Frank-Walter Steinmeier bei seiner Rede. © dpa/Jan Woitas

„Wer heute Volk sagt, sind die anderen, gegen die wir auf die Straße gehen.“ Ingo Schulze erinnert daran, dass die Losung „Wir sind das Volk“ im Oktober ’89 entstand als Antwort auf den Slogan Uniformierter: „Wir sind die Polizei“. Die Selbstermächtigung in Betrieben, Schulen, Universitäten nach dem Mauerfall sei eine großartige Erfahrung gewesen. „Plötzlich lernten wir an den Runden Tischen die Demokratie. Man war das Subjekt der Geschichte – und bald ein Heer überflüssiger Arbeitskräfte.“

Es müsse klar benannt werden, was damals nicht gut gelaufen sei. Als Beispiel nennt er das „schreckliche Gesetz“, das Rückgabe vor Entschädigung postulierte. Schulze bedauert, dass die Chance für eine gemeinsame neue Verfassung vertan wurde. „Im Grundgesetz steht nirgendwo, dass es kapitalistische Verhältnisse geben muss. Das finde ich ermutigend.“

„Inzwischen wird bei Asylbewerbern eine AfD-Politik ohne AfD gemacht“

Marcel Beyer platzt ein kleines bisschen der Kragen, als er sagt: „Das ist doch alles mehr als dreißig Jahre her!“ Angesichts der Umfragen vor den kommenden Landtagswahlen müsse man diskutieren, wie man in Zukunft leben wolle. „Wir haben einen Mangel an Fachkräften und Nichtfachkräften. Wir brauchen Menschen von außerhalb.“ Aber wenn sie auf der Straße angespuckt würden, würde sich das herumsprechen. Dann käme bald keiner mehr. Dann würde die Gesellschaft immer älter. Dann würden noch Renten gezahlt, aber es würden sich keine Betriebe ansiedeln.

Ingo Schulze spielt diesen Ball der Politik zu. Wie kürzlich bei einer szenischen Lesung im Dresdner Theater kritisiert er, dass Bundespolitiker im Ausland nach Fachkräften suchten, während gut integrierte Migranten abgeschoben würden. „Inzwischen wird bei Asylbewerbern eine AfD-Politik ohne AfD gemacht.“ Doch in Gesundheitswesen, Schulen und Wohnungsbau sei so viel zu tun, dass es fast verschwendete Zeit sei, sich um die AfD zu kümmern.

Ingo Schulze, Marcel Beyer, Anne Rabe und Moderator Peter Müller, Chefredakteur Augsburger Allgemeine, (von links) sitzen bei einer Podiumsdiskussion nach der Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Ingo Schulze, Marcel Beyer, Anne Rabe und Moderator Peter Müller, Chefredakteur Augsburger Allgemeine, (von links) sitzen bei einer Podiumsdiskussion nach der Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. © dpa/Jan Woitas

Anne Rabe fragt nach den Gründen für den Zuspruch zu dieser Partei im Osten. „Hier ist man dann erfolgreich, wenn man rechtsextreme Proteste anzettelt.“ Glatze und Bomberjacke seien wieder modern. Sie nennt es „Faschismus-Fasching“, spricht von der Lust auf Anarchie und Randale. Mit solchen Leuten habe sie in der Schulbank gesessen. Ihre Generation bilde die größte Wählerbasis für die AfD.

Das habe auch mit dem Chaos der Nachwendezeit zu tun. Sie selbst hätte die ältere Generation nicht als politisches Subjekt erlebt, sondern als hilflos und gewalttätig. Zum Vorwurf von Ingo Schulze, das zu Vererbende sei in Ost und West noch immer ungleich verteilt, sagt Anne Rabe: „Wenn der Wohnungseigentümer die Miete erhöht, ist es mir egal, ob er aus dem Osten oder dem Westen kommt.“

Einig sind sich die drei Schriftsteller in ihrer Hoffnung auf die wirklich junge Generation. „Es ist eine irrsinnige Erfahrung, dass sich die jungen Leute heute vieles nicht mehr bieten lassen“, sagt Marcel Beyer, „auch nicht die ewig schlechte Stimmung.“ Er ahmt das Maulen Älterer nach. Nach Covid sei zu erleben, dass die Jugendlichen wieder schätzen, was echte Gemeinschaft bedeutet. Anne Rabe freut sich über die große Selbstverständlichkeit, mit der sie reisen und Erfahrungen im Ausland machen können.

„Sie sollten wählen gehen für ein offenes Europa und die Möglichkeit, sich beruflich zu entfalten“, sagt die Autorin, die Mitglied der SPD ist. Auch Ingo Schulze nennt es toll, dass der jungen Generation viele Möglichkeiten offenstehen. Das Aber gehört bei ihm oft dazu. Er meldet auch Widerspruch an, als Marcel Beyer über die Möglichkeit spricht, rechtsradikale Präsenz zu verhindern. „Damit zwölf Rechtsradikale auf dem Marktplatz nicht auffallen, müssen 120 andere da sein“, sagt Beyer. Und Schulze erinnert daran, dass die Stadtverwaltung in Dresden in früheren Jahren eben das verhindert habe.