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Eine glückliche Löbauer Familie - mit einem Damoklesschwert über sich

Die Eheleute Kelvis und Jesus sind mit ihren kleinen Töchtern von Venezuela nach Löbau geflüchtet. Die SZ wird die Familie in nächster Zeit begleiten.

Von Markus van Appeldorn
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Eine glückliche und ehrgeizige Familie: Kelvis Escandela mit ihrem Mann Jesus Arias und ihren Kindern Laura (l.) und Alessa stammen aus Venezuela.
Eine glückliche und ehrgeizige Familie: Kelvis Escandela mit ihrem Mann Jesus Arias und ihren Kindern Laura (l.) und Alessa stammen aus Venezuela. © Rafael Sampedro/foto-sampedro.de

Kaum etwas erhitzt die Gemüter zwischen Löbau und Zittau so sehr wie die Debatte um Asyl und Migration. Ist die Einrichtung eines Asylbewerberheims etwa in Hirschfelde oder Ebersbach im Gespräch, gibt's einen kollektiven Aufschrei und Protest. Es gibt viele Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen: Verfolgung, Armut, Perspektivlosigkeit. Wie Asylbewerber hier leben, was sie möchten - darüber gibt's viel Unwissenheit, Vorurteile und auch Ängste. Die SZ wird daher exemplarisch eine Flüchtlingsfamilie über einen längeren Zeitraum begleiten, über ihr Leben hier und ihren Verfahrensgang berichten: das Ehepaar Kelvis Escandela (37) und Jesus Arias (42) mit ihren beiden Töchtern Laura (2) und Alessa (6) aus Venezuela.

Das bescheidene Paradies, das sich die junge Familie eingerichtet hat, misst 58 Quadratmeter - eine Etagenwohnung in Löbau. Wenn Alessa ihre kleine Schwester auf der Schaukel anstößt, quietscht die kleine Laura vor Freude. Papa Jesus hat die Schaukel an einer Stange im Türrahmen zum Wohnzimmer aufgehängt - auf engem Raum muss man erfinderisch sein. Zwischen den beiden Betten im Kinderzimmer stehen ein aufgeräumtes Bücherboard mit Kinderbüchern, ein Spielherd, in einer Ecke ein Dreirad und ein Tretroller. Ein Poster mit dem Foto eines Luchses hängt über einem der Betten. An mehreren Stellen in der Wohnung sind Familienfotos aufgehängt. Alle lachen darauf, etwa bei einem Ausflug an den Berzdorfer See. "Besonders Alessa liebt Wasser und sie liebt es, im Schnee zu spielen - Schnee kennen wir von daheim gar nicht", sagt Mama Kelvis. Aufgeräumt und glücklich lebt die Familie hier - und ja, auch irgendwie aufgeräumt, ziemlich deutsch wie unzählige andere Familien in diesem Land.

Venezuela - ein Staat der Unterdrückung

Aber die Familie ist tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Die liegt jenseits des Atlantiks im südamerikanischen Venezuela. Das Land sitzt auf dem größten Erdölvorkommen der Welt, könnte womöglich unermesslich reich sein. Wohlstand gibt's dort trotzdem nicht. Ein sozialistisches Regime unterdrückt mithilfe eines Militär- und Polizei-Apparats die Bevölkerung. Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit gibt's dort nicht mehr. 7,7 Millionen Venezolaner sind vor diesen Zuständen geflüchtet - ein Viertel der Bevölkerung.

Bis 2017 lebte das Ehepaar in Barquisimeto, der mit annähernd 900.000 Einwohnern viertgrößten Stadt Venezuelas. Kelvis arbeitete damals dort als Journalistin bei einer Tageszeitung. "Ich habe dort auch von den Demonstrationen gegen die Regierung berichtet", erzählt sie. Begleitet wurde sie dabei häufig von ihrem Mann. Der studierte damals dort Maschinenbau, half ihr aber bei den Reportagen als Fotograf aus. "Bei einer dieser Demonstrationen haben wir auch Fotos davon gemacht wie das Militär in die Menge schoss. Es gab auch Tote. Das ist dort an der Tagesordnung", erzählt sie. Mit so einer Arbeit macht man sich freilich keine Freunde beim Regime. Sie wurde zwar nicht festgenommen oder bedroht, aber sie spürte: Die Luft wird dünn. "Es war gefährlich für uns und ich war mittlerweile schwanger", erzählt sie.

Mit nur zwei Koffern verließen sie das Land und flohen nach Ecuador. Wie in allen Ländern Südamerikas (außer Brasilien) spricht man auch dort spanisch. Fünf Jahre verbrachten sie da. Beide Töchter wurden dort geboren. Über Wasser hielten sie sich etwa damit, dass sie als Verkäuferin in einem Schuh- oder Modeladen arbeitete, er als Hochzeitsfotograf. Doch dann war auch Ecuador für sie nicht mehr sicher. "Die Corona-Pandemie kam und zunehmende Fremdenfeindlichkeit", erzählt sie. Mittlerweile waren nämlich gut 500.000 Venezolaner nach Ecuador geflüchtet - immer mehr Menschen dort wurde das zu viel. Im September 2022 reisten sie deswegen zurück nach Venezuela.

Wille zur schnellen Integration und Arbeit

Dort hatten sich die Zustände noch verschlimmert. "Eine Mafia hat uns erpresst, forderte Geld von uns", erzählt Kelvis. Am 7. Oktober flohen sie dann schließlich nach Europa. Aber warum Europa? "Nach Europa konnten wir damals mit unseren Pässen visafrei einreisen", erklärt sie - das wäre etwa in die USA nicht möglich gewesen. Um sich die Tickets leisten zu können, hätten sie alles verkaufen müssen: Möbel, Fernseher, Spielzeug, sogar die Kamera von Jesus. "Ich habe geweint", sagt der. Mit Flügen über Panama, Kolumbien und Amsterdam gelangten sie schließlich nach München und von dort mit dem Zug nach Leipzig. "Dort haben Freunde gelebt", sagt Kelvis.

Und in Leipzig beantragten sie schließlich auch Asyl, wurden dort in einem Heim untergebracht, anschließend in Dresden und im Januar 2023 im Asylbewerberheim an der Sachsenstraße in Zittau. Im April 2023 bekamen sie als Familie dann die Wohnung in Löbau zugewiesen - und kamen so in die Betreuung von Caroline Birrer, beim Roten Kreuz in Löbau Sozialarbeiterin für sämtliche hier dezentral untergebrachten Flüchtlinge.

Die Familie wollte vom ersten Tag anfangen, sich hier zu integrieren - und Caroline Birrer unterstützt sie bei dem, was man dabei so beachten muss in Deutschland. "Zuerst mussten sie die Kinder unterbringen, bevor sie überhaupt an einem Deutschkurs teilnehmen können", erzählt sie. Das hätte Mama Kelvis sogar sehr schnell bis zum August 2023 hinbekommen. "Die eine Tochter geht in den Kindergarten in Kittlitz, die andere ist in Löbau untergebracht", erzählt sie. Was für ein Spagat: Die eine Tochter bringt der Papa jeden Morgen zu Fuß zur Kita, die andere die Mama mit dem Bus nach Kittlitz. Und: Beide müssen auch schon frühzeitig spätestens um 14 Uhr wieder dort abgeholt werden. "Die Behörde zahlt nur sechs Stunden Betreuung für die Kinder", sagt Birrer. Noch was speziell Deutsches: Mülltrennung. "Tatsächlich muss ich den meisten Leuten erst mal beibringen, wie man den Müll trennt. Deswegen gibt's nämlich bei Nachbarn von dezentral untergebrachten Menschen die meisten Beschwerden", sagt Birrer - Kelvis und Jesus machen das vorbildlich.

Dabei ist auch die kleine Alessa schon sehr ehrgeizig, sich zu integrieren. "Sie ist frustriert, weil sie noch nicht so gut Deutsch kann und sich mit den anderen Kindern verständigen möchte", erklärt Birrer. Jetzt absolviert sie drei Tage pro Woche einen halbstündigen Deutschkurs - online übers Smartphone. Papa Jesus hat es in Deutsch bereits auf Sprachniveau B1 gebracht - fortgeschrittene Sprachanwendung. Mama Kelvis ist auf dem Weg dahin. Er würde jetzt gerne erst mal einen Hilfsjob irgendwo annehmen, um unter Menschen noch besser Deutsch zu lernen. Und ab August würde er gerne Sprachniveau B2 erlangen, um dann eine Lehre oder gar ein duales Studium beginnen zu können. Prospekte potenzieller Arbeitgeber hat er bereits auf seinem Tisch.

Die beiden Töchter beim Schaukel-Spaß.
Die beiden Töchter beim Schaukel-Spaß. © Rafael Sampedro/foto-sampedro.de
Papa Jesus schaut mit Töchterchen Laura Familienbilder an.
Papa Jesus schaut mit Töchterchen Laura Familienbilder an. © Rafael Sampedro/foto-sampedro.de
Caroline Birrer vom DRK hilft der jungen Familie vor allem bei Behördenkram.
Caroline Birrer vom DRK hilft der jungen Familie vor allem bei Behördenkram. © Rafael Sampedro/foto-sampedro.de
Alessa beim Online-Deutschkurs.
Alessa beim Online-Deutschkurs. © Rafael Sampedro/foto-sampedro.de

"Super Fachkräfte für uns"

Doch über allem schwebt ein Damoklesschwert. Bereits im September 2023 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag der Familie abgewiesen und weder einen Flüchtlingsstatus noch einen subsidiären Schutz zuerkannt. Der Bescheid war auch mit der Aufforderung versehen, die Bundesrepublik binnen 30 Tagen zu verlassen. Eine Abschiebung ist noch nicht angedroht. Caroline Birrer könnte eine solche Maßnahme auch überhaupt nicht nachvollziehen und verweist auf einen Offenen Brief unter anderem des sächsischen Flüchtlingsrates an den Bundeskanzler und auch Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU). An Kretschmer, weil Sachsen die überwiegende Mehrheit venezolanischer Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen hat.

In dem Brief wird vor der Abschiebung von Venezolanern in ihre Heimat gewarnt. Dort drohe ihnen nach der Rückkehr Gefahr an Leib und Leben, weil sie vom Regime als "Vaterlandsverräter" betrachtet würden. Zudem würden venezolanische Flüchtlinge eben nicht wie viele andere ihre Identitätspapiere wegwerfen und würden ein großes Interesse daran zeigen, sich schnell zu integrieren, zu arbeiten und ohne Abhängigkeit von staatlichen Leistungen leben zu können. "Das wären super Fachkräfte für uns", sagt Caroline Birrer.