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Meißner Ukraine-Klasse: Gopak in der Pesta

Der Unterricht mit ukrainischen Kindern ist an der Pestalozzi-Oberschule in Meißen längst Alltag. Was läuft da eigentlich? Wo hängt es? Und vor allem, was bringt es?

Von Andre Schramm
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DAZ-Lehrerin Ina Benner unterrichtet eine ukrainische Klasse in der Pestalozzi-Oberschule Meißen. Schüler haben Substantive an die Tafel geschrieben.
DAZ-Lehrerin Ina Benner unterrichtet eine ukrainische Klasse in der Pestalozzi-Oberschule Meißen. Schüler haben Substantive an die Tafel geschrieben. © Claudia Hübschmann

Meißen. Es ist kurz vor halb neun. Die Jungs und Mädchen stehen brav hinter ihren Tischen. 20 ukrainische Kinder sind an diesem Mittwochmorgen da. Sie sind zehn bis 13 Jahre alt und haben zum Teil schon einen langen Schulweg hinter sich. Lehrerin Ina Benner begrüßt die Schüler. Wir bekommen ein freundliches "Guten Morgen Gäste". Hingesetzt wird sich noch nicht. Was ist Dein Hobby, will die DaZ-Lehrerin von Viktoria wissen. "Mein Hobby ist Fußball", sagt das Mädchen in erstaunlich gutem Deutsch. Wie geht es Dir? Wo wohnst Du? Wann ist Dein Geburtstag? Es geht reihum.

Die Antworten kommen mal wie aus der Pistole, mal mit Verzögerung. Jeder, der dran war, darf sich setzen. Nach knapp zwei Monaten Schule ist längst Routine eingekehrt. Wer wirklich mal nicht weiter weiß, dreht den Kopf Richtung Fensterreihe. Dort steht Ija Rychciak. Die Ukrainerin, die vom Kollegium einfachheitshalber nur Ija genannt wird, ist eigentlich Stadtführerin, zeigt Reisegruppen Meißen oder die Sächsische Schweiz.

Hier ist sie Übersetzerin, gute Seele und manchmal auch eine wichtige Zuhörerin. In der Klasse ist auch ein Mädchen aus Charkiw. "Sie hat Schlimmes erlebt", sagt Ija. Genauer wird sie lieber nicht. Normalerweise bräuchte man einen Psychologen, der Ukrainisch spricht. Den gibt es nicht. Ganz vorn sitzt nämlich noch ein hochemotionaler Schüler, der besser in einer Förderschule aufgehoben wäre. "Von Wutausbruch bis Weinen ist bei ihm alles möglich", sagt die Lehrerin. Bisher sei er unauffällig.

Ijas Aufmerksamkeit gilt heute aber dem zehnjährigen Timo. Er ist den ersten Tag da. In seiner Heimat soll Timo ein sehr guter Schüler gewesen sein, weiß die 56-Jährige aus Gesprächen mit seinen Eltern. Seine Mitschüler haben sieben Wochen Vorsprung. Ist das aufzuholen? Ija nickt. Großer Vorteil ist, dass die meisten Schüler das lateinische Alphabet schon draufhaben – durch den Englisch-Unterricht in ihrer Heimat.

Inzwischen bittet Frau Benner die Schüler zum Diktat. Will jemand an die Tafel? Widererwarten machen sich zwei Jungs und ein Mädchen auf den Weg nach vorn. Das Buch, die Flasche, die Tasse: Es gilt verschiedene Substantive samt Artikel aufzuschreiben. Hier und da fehlen Buchstaben. Was gemeint ist, lässt sich erkennen. Grundlagenarbeit. Die Pädagogen nennen das Niveau A1. "Konjugieren, Wortschatzarbeit und das Bilden einfacher Sätze stehen dieser Tage auf dem Programm", erzählt Ina Benner. Selbst für die erfahrene DaZ-Lehrerin hat der Unterricht einen gewissen Lerneffekt. Sie hat gerade erfahren, dass Jacke Kurtka heißt.

Vorbereitungszimmer ist jetzt Klassenraum

Die Pesta war die erste Schule in Meißen, die eine reine Ukraine-Klasse eingerichtet hatte. Zuvor wurde noch durch das Sächsische Landesamt für Schule und Bildung (LaSuB) abgefragt, ob überhaupt genügend Personal und Räumlichkeiten vorhanden seien. "Wir hatten beides verneint", erzählt Schulleiter André Pohlenz. Der Schulstart am 4. April kam daher ziemlich überraschend. Keiner der Neuen konnte die deutsche Sprache. Eine Übersetzerin musste schleunigst her. "Das ist eben das Schöne in Meißen – wenn man Hilfe braucht, dann bekommt man sie ganz unkompliziert", sagt Pohlenz. Er ist froh, Ija an der Schule zu haben. Sie wurde inzwischen auf 25-Stunden-Basis eingestellt. Was fehlt, ist eine ukrainische Lehrkraft.

Derzeit sind 23 Jungs und Mädchen in der ukrainischen DaZ-Klasse. Die Anmeldung für Schüler Nummer 24 liegt schon auf dem Schreibtisch des Schulleiters. Zuletzt hatte das LaSuB die Grenze auf 28 angehoben "Eine Klassengröße von 28 ist schon in der Regelschule eine Herausforderung", sagt Pohlenz. Um die ukrainischen Schüler aufnehmen zu können, mussten die beiden bisherigen DaZ-Klassen zu einer zusammengelegt werden. "Das heißt, darin lernen nun afghanische, syrische und vietnamesische Kinder und Jugendliche der Klassenstufe fünf bis zehn zusammen. Das kann kein Dauerzustand sein", erklärt der Schulleiter weiter.

Normalerweise muss jedem DaZ-Schüler ein Platz in der Regelschule zugewiesen werden. Auch das ist nicht möglich. Man habe allein für die fünften Klassen 96 Bewerbungen bei 80 verfügbaren Plätzen. Heißt: Die Pestalozzischule ist randvoll. Das Platzproblem führt inzwischen u. a. dazu, dass die Lehrer ihre Vorbereitungsräume nicht mehr nutzen können, weil dort die etwas fortgeschrittenen Ukrainer unterrichtet werden. "Wir engagieren uns wirklich gern und die Kollegen sind mit Herzblut dabei. Es ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der sich alle Schulen beteiligen sollten", meint Pohlenz. Bisher sei das seiner Auffassung nach nicht der Fall. Vielmehr seien diejenigen wieder dran, die schon 2015/2016 viel geschultert hätten.

Inzwischen neigt sich die erste Doppelstunde dem Ende. Anhand von Geräuschen müssen die Schüler das richtige Tier benennen. Die Laute sind – mit kleinen Ausnahmen – glücklicherweise international. Es folgen eigene kurze Sätze: Ich lese das Buch. Du hörst Musik. Wir tanzen... Was eigentlich? Jemand ruft Gopak in den Raum. Was das ist, will die Lehrerin wissen. "Ein ukrainischer Volkstanz", sagt Ija. Drei Mädchen erklären sich bereit für eine kleine Vorführung. Und Neuling Timo? Er zeigt seinen Zettel mit Motiven von Tieren und Gegenständen. Darunter hat er geschrieben, was zu sehen ist – nahezu fehlerfrei. Für die erste Doppelstunde Deutsch in seinem Leben nicht schlecht. Sechs bis acht Wochen braucht es erfahrungsgemäß nur, bis sich die DaZ-Schüler mit einfachen Sätzen verständigen können. Da niemand weiß, was die Zukunft bringt, ist das Erlernen unserer Sprache momentan wohl das Vernünftigste.