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Meißen-Buschbad: "Kinder im Wasser!"

Vom 12. auf den 13. August 2002 spielten sich in Meißen-Buschbad dramatische Szenen ab. Drei Retter erzählen 20 Jahre später, wie sie den Einsatz erlebt haben.

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V.l.: Dr. Andreas Pätz, Sandra Knorr und Ronny Kunze waren am Rettungseinsatz im Buschbad beteiligt. Kurz vor dem 20. Jahrestag des Augusthochwassers trafen sie sich wieder.
V.l.: Dr. Andreas Pätz, Sandra Knorr und Ronny Kunze waren am Rettungseinsatz im Buschbad beteiligt. Kurz vor dem 20. Jahrestag des Augusthochwassers trafen sie sich wieder. © Claudia Hübschmann

"Der Notarzt": Dr. Andreas Pätz war 42 Jahre alt und Oberarzt in der Unfallchirurgie des Meißner Krankenhauses. "Dass ich ausgerechnet am 12. August Notarztdienst hatte, war reiner Zufall", erinnert er sich. In dieser Zeit hat er auf der Station gearbeitet und Papierkram erledigt. "Operationen macht man da nicht, es könnte ja jeden Moment in den Einsatz gehen", erzählt er. Dieser ließ auch an dem Montag nicht lange auf sich warten. Gegen Mittag wurde er zu einem Notfall in der Nähe von Lommatzsch gerufen. Also rein in den Notarztwagen und los.

"Es hat in Strömen geregnet, auch die Tage vorher", erzählt der Doktor weiter. Das Team kam nicht weit. Über eine Straßenbrücke des Ketzerbachs lief bereits das Wasser. Der Fahrer des Notarztwagens sträubte sich, weiterzufahren. Die beiden Rettungsassistenten aus dem RTW nahmen kurzerhand die Trage und holten die Patientin zu Fuß ab. "Sie befand sich, soweit ich mich erinnern kann, im diabetischen Koma", sagt Pätz. Erstversorgung und zurück in die Klinik. "Ich dachte auf der Rückfahrt noch, hier passiert etwas ganz Schlimmes", erinnert sich der Mediziner.

"Das hätte böse ausgehen können"

Halbgötter in Weiß: Diese Bezeichnung traf vor 20 Jahren tatsächlich noch auf die Ärzteschaft zu. "Weißer Kittel, weiße Hose, weiße Schuhe – so sind die Notärzte damals rausgefahren", sagt Pätz. Es war inzwischen später Nachmittag, als ein weiterer Notruf einging. Ein Mann sei in den Kellerräumen in der St. Benno Kirche eingeschlossen und droht, zu ertrinken, hieß es. Dort angekommen, stellte sich heraus, dass der Mitarbeiter den Strom abstellen wollte, die Tür hinter ihm aber zuging. "Schon nach der dritten Treppe kam uns das Wasser entgegen", erzählt Pätz. Glücklicherweise waren Kameraden der Feuerwehr vor Ort. Sie brachen die Tür auf und der Mann konnte gerettet werden. "Das hätte böse ausgehen können", dachte sich der Notarzt.

Der Einsatzort befand sich unmittelbar neben der Triebisch. "Der Fluss war zu dieser Zeit noch in seinem Bett. Vermutlich war das Wasser unterirdisch in den Keller geströmt." Für Dr. Pätz gab es hier nicht mehr viel zu tun. Er fuhr zurück in die Klinik. Es muss wohl gegen 20 oder 21 Uhr gewesen sein, als eine beunruhigende Meldung hereinkam: Zwei Jugendliche seien am Buschbad ins Wasser gefallen und müssten gerettet werden, hieß es in der Mitteilung. Notarzt Pätz sprang ins Auto. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass dies der Anfang einer dramatischen Rettungsaktion war.

Der Notarztwagen kam allerdings nur bis zum Kaufland im Triebischtal. Die Wassermassen machten eine Weiterfahrt unmöglich. Der Notarztwagenfahrer probierte es über das Rauhental und den Dobritzer Berg – mit Erfolg. "An der Unterführung der Eisenbahnbrücke war Schluss", sagt der heute 62-Jährige. Er erinnert sich, dass dort schon ein Sprinter bis zur Hälfte im Wasser stand. Jemand kam auf die Idee, per Funk die DRK-Wasserrettung zu rufen. "Ich weiß nicht, wie die das gemacht haben, aber sie waren in fünf Minuten da", erinnert sich der Arzt. Im Gepäck hatten die Wasserretter ein kleines Schlauchboot mit Außenbordmotor. Dr. Pätz warf seinen Notarztrucksack hinein und ging an Bord. Ein Wasserretter zog das Gefährt. Das Wasser war ruhig. Die Situation änderte sich aber schlagartig.

"Etwa auf Höhe der alten Mühle wurde das Rauschen der Fluten extrem laut", sagt Dr. Pätz. Irgendwann hatte der DRK-Mann keinen Halt mehr. Durch Schwemmgut hatte sich das Wasser an einer alten Brücke gestaut. Die Wassermassen suchten sich einen anderen Weg. "Die Strömung wurde mit einem Schlag extrem gefährlich", erinnert sich Dr. Pätz. Verzweifelt versuchten die beiden Insassen den Motor anzuwerfen. Das Ding sprang einfach nicht an: "Wir hielten uns an einem zwei Meter hohen Zaun fest, der nur noch wenige Zentimeter aus dem Wasser ragte." Die Strömung wurde zu stark und das Boot trieb in Richtung der damaligen Führerscheinstelle.

Handy ohne Guthaben

"Das Wasser schoss durch das Gebäude durch. Ich dachte, entweder wir ertrinken jetzt oder werden zerquetscht." In der Nähe einer großen Villa bekam der Notarzt auf dem Boot zuerst einen Ast und dann einen Blitzableiter an der Hausecke zufassen und konnte dadurch das Boot um eine Ecke in den Flutschatten manövrieren. Geschafft. Man sei dann, so erzählt er weiter, direkt in die Villa reingefahren. Dort saß ein Junge in Decken eingewickelt. Wie sich herausstellte, war es der Jugendliche, der den Alarm verursacht hatte. Er war – entgegen der Einsatzmeldung – allein unterwegs gewesen.

In dem Anwesen hielten sich zu dem Zeitpunkt noch die Bewohner auf, unter anderem auch ein Spielzeugwarenhändler, der in Wilsdruff ein Geschäft hatte. "Ich erinnere mich an ihn, weil er der Einzige war, der ein Handy besaß", erzählt Dr. Pätz. Vor 20 Jahren war allerdings das Mobilfunknetz noch nicht so gut ausgebaut, wie heute. Hinzu kam ein weiteres Problem: Es handelte sich um ein Prepaid-Telefon und die Batterie war leer. Der Mediziner hatte allerdings irgendwann mal gehört, dass ein Notruf angeblich immer möglich sei. Und tatsächlich: Unter der 112 meldete sich die Leitstelle Meißen. "Ich war absolut fasziniert", erinnert er sich. Er konnte kurz die Lage schildern und den Standort durchgeben. Nach etwa 20 Sekunden brach die Verbindung ab. Was dann passierte, kennt der Arzt nur aus Erzählungen. Sein kurzes Telefonat mobilisierte zahlreiche Kräfte. "Notarzt mit Patient eingeschlossen", hieß es.

Daraufhin machte sich eine Feuerwehr auf den Weg und versuchte, über die Talstraße zum Einsatzort zu gelangen. Das tonnenschwere Fahrzeug wurde jedoch in Höhe des Parkplatzes im Buschbad von den Fluten umgerissen. Die vier Kameraden konnten sich nur noch auf dem umgekippten, vom Wasser umtosten Fahrzeug anschnallen und im strömenden Regen auf Rettung hoffen. Die Wasserretter in der Villa versuchten inzwischen einen Ausweg zu finden und es gelang einem von ihnen - Ronny - durch das Wasser an Land zu finden.

Kurz nach Mitternacht tauchte ein Mann in der Villa auf: "Er sah aus wie ein Kampftaucher und brachte den Jugendlichen und mich mit dem Boot zu einer festen Anhöhe", erzählt der Arzt. Das Boot war zuvor mit einem Strick gesichert worden. Über den Hof der Villa ging es wieder durch die Stromschnellen. "Was dieser Mann geleistet hat, ist einfach unglaublich", sagt der Arzt. Er brachte die Bootsinsassen bis zu einem Landvorsprung und hieß ihnen dort auszusteigen. Es ging zu Fuß weiter, nun auf dem Landweg.

"Herr Doktor, da sind Sie ja endlich!"

Die ganze Situation sei einfach unwirklich gewesen, erinnert sich der Mediziner. Es regnete, war stockduster. Hinzu kam noch das permanente Rauschen des Wassers. Die DRK-Helfer an Land hatten nur eine kleine Taschenlampe mit Drehgenerator. Wirklich geholfen hat sie nicht. "Wir sind durch Gartenanlagen Richtung Hohe Eifer geirrt. Irgendwann kamen die Schienen der Eisenbahn und damit ein sicherer Rückweg bis zur Unterführung, an der alles angefangen hatte. "Ich war fünf oder sechs Stunden weg gewesen. Mein Rettungsassistent stand immer noch da, als wäre nichts passiert", erzählt der Arzt. "Herr Doktor, da sind Sie ja endlich!"

Völlig verdreckt lieferte der Notarzt den Jungen im Krankenhaus ab und blickte in die ungläubigen Gesichter der Kollegen. Die fragten, wo er denn gewesen sei? Das war damals wirklich ein Phänomen. Auf der Altstadtseite ging "die Welt unter" und drüben lief alles normal weiter. Der 24-h-Dienst war aber noch nicht vorbei. Etwa anderthalb Stunden später wurde er wieder auf den Dobritzer Berg beordert. Dieses Mal, um vier Feuerwehrleute ärztlich zu versorgen. Dort angekommen erzählten die bei Tagesanbruch von einem Hubschrauber geretteten Kameraden, dass sie einen Notarzt retten wollten und nun ihrerseits gerettet wurden. Dr. Pätz konnte die Zusammenhänge aufklären. Er sagte den Kameraden, dass er der Grund für ihren Einsatz gewesen sei. Später erschien ein kleiner Artikel in der Sächsischen Zeitung, in dem sich der Doktor bei den Männern bedankte, ebenso bei den Kameraden der Wasserwacht und den Bewohnern des Hauses. Den Jungen hat er nie wieder gesehen. Er sei damals vielleicht 14 oder 15 Jahre alt gewesen.

Der 24-Stunden-Dienst als Notarzt war vorbei. Der normale Dienst allerdings nicht. Es standen noch einige Operationen an. Jahre später eröffnete der Chirurg eine eigene Praxis in Coswig. Dort arbeitet er heute immer noch. "Die Sache damals hat meinen Blick für Blitzableiter geschärft. Ich schaue danach. Und wenn ich einen sehe, dann muss ich immer an jene Nacht denken. Ich werde sie niemals vergessen", sagt der heute 62-Jährige.

Sandra Knorr und Ronny Kunze von der Wasserwacht paddeln vorsichtig mit einem Schlauchboot durch die überflutete Altstadt in Meißen 2002.
Sandra Knorr und Ronny Kunze von der Wasserwacht paddeln vorsichtig mit einem Schlauchboot durch die überflutete Altstadt in Meißen 2002. © Claudia Hübschmann (Archiv)

"Der Wasserretter": Ronny Kunze war gerade Vater geworden und wohnte 2002 in Nossen. "Ich war selbstständig und arbeitete in Meißen. Am 12. August war er auf dem Weg zur Meisterschule nach Großenhain. Ich hatte gehört, dass es Probleme auf den Straßen in Meißen gibt. Also bin ich über die Autobahn gefahren", erzählt er. Noch vor Dresden kam der Einsatzbefehl. Ronny Kunze war damals bei der Wasserrettung des DRK aktiv. "Wir wurden alle zur Bergstraße 8 beordert", sagt der heute 45-Jährige. Also fuhr er in Wilsdruff runter Richtung Meißen. "Wir haben dann die Fahrzeuge klargemacht und die Feldbetten aufgestellt. Einige von uns waren noch im OBI-Markt Gummistiefel kaufen. Es waren gelbe Gummistiefel", erinnert sich Kunze. Wenig später kam die Meldung "Kinder im Wasser". Der Trupp machte sich auf ins Buschbad, ebenfalls über den Dobritzer Berg.

Kunze stieg mit dem Notarzt und weiteren Kameraden ins Rettungsboot. "Autos sind an uns vorbeigeschwommen. Es gab auch eine Situation, in der direkt neben uns eine Mauer einstürzte", sagt Kunze. Das Nächste, an das er sich erinnern kann, sei die Villa gewesen, wo man den Arzt abgesetzt habe. "Danach haben wir es irgendwie zurückgeschafft", sagt Kunze.