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Meißen: Überraschung auf dem Dachboden der Leichenhalle

Ein Zufallsfund im Krematorium Meißen offenbart das kleine Geheimnis eines ehemaligen Meißner Bestatters, und das Tempo der damaligen Reichspost.

Von Andre Schramm
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Jörg Schaldach studiert die Unterlagen, die auf dem Dachboden der alten Leichenhalle gefunden wurden.
Jörg Schaldach studiert die Unterlagen, die auf dem Dachboden der alten Leichenhalle gefunden wurden. © Claudia Hübschmann

Meißen. Seit Ende 2020 wird am Krematorium an einer neuen Leichenhalle gebaut. Nicht nur das. Auch neue Umkleideräume und ein Sanitärbereich fürs Personal sind inzwischen schon sichtbar. Am Dach der alten Leichenhalle wurde ebenfalls Hand angelegt, und dort stieß ein Dachdecker vor etwa drei Wochen auf einen kleinen Stapel Papier, der gut versteckt, in einer Ecke deponiert worden war. Es handelt sich um Briefumschläge und kleine Zettel, die auf den ersten Blick schon etwas vergilbt wirken. Sie müssen also schon eine Weile auf dem Dachboden geschlummert haben.

"Offenbar seit dem Jahr 1911", sagt Jörg Schaldach, Geschäftsführer der Städtischen Bestattungswesen Meißen GmbH. Er hat die Unterlagen inzwischen gesichtet. Es handelt sich um Lottoscheine aus dem frühen 20. Jahrhundert. Wie kommt sowas bitte auf den Dachboden einer Leichenhalle? Eine mögliche Erklärung liefern die Adressen auf den Briefumschlägen. Dort ist von einem Herrn Zöppig zu lesen. "Er war Totenbettmeister in Meißen auf der Nossener Straße 4", erzählt Schaldach. Zu dieser Zeit, so Schaldach weiter, gab es in Meißen noch fünf Bestatter. Sie alle hatten den Schlüssel zur Leichenhalle, um die Toten dort zu lagern. Die Halle war bereits im Jahr 1906 in Betrieb gegangen.

Im Rekordtempo von Lübeck nach Meißen

"Die Vermutung liegt nahe, dass Max Zöppig Lottospieler war, und das – aus welchen Gründen auch immer – vor seinen Angehörigen geheim gehalten hat", so Schaldach weiter. Ob er gewonnen hat, geht aus den Unterlagen nicht hervor, dass er verloren hat schon. "Man wurde in diesem Fall postalisch benachrichtigt", sagt Schaldach und zeigt dabei auf ein entsprechendes Schreiben. Die Schreiben lassen dafür aber Rückschlüsse auf das damalige Lottosystem zu. "Offenbar wurde ein Lottoschein gekauft mit einer Nummer. Dann gab es die Ziehung, und anschließend wurden die Nummer samt Gewinn auf der Ziehungs-Liste veröffentlicht", so Schaldach. Der Einsatz für das Glücksspiel war nicht ganz preiswert. 6,40 Mark musste man für einen Schein berappen. "Ein Schneidergeselle ist Anfang des 20. Jahrhunderts mit einem Monatslohn von 15 Mark heimgegangen", sagt Schaldach. Die Ziehungen fanden im Zweimonats-Rhythmus statt.

Ein Schreiben der Losvertriebstelle "H. Bruns & Co.". Lottospieler wurden auch dann informiert, wenn ihr Los nicht gewonnen hatte.
Ein Schreiben der Losvertriebstelle "H. Bruns & Co.". Lottospieler wurden auch dann informiert, wenn ihr Los nicht gewonnen hatte. © Claudia Hübschmann

Abgewickelt wurden die Lottogeschäfte von Zöppig über die Firma H. Bruns & Co. Braunschweig, und später über die Dependance der gleichen Firma in Lübeck. Das Unternehmen fungierte als "Bankgeschäft und Losvertriebsstelle". Der Meißner Totenbettmeister probierte sein Glück sogar im Ausland. Das belegen Ziehungs-Listen, die mit französischen Franc ausgezeichnet sind, und ebenfalls zu den Fundstücken gehören. Eingrenzen lassen sie sich auf die Jahre 1911 bis 1913.

Jörg Schaldach blieb auch ein interessantes Detail über die damalige Reichspost, genauer noch ihre Schnelligkeit, nicht verborgen. Es handelt sich um zwei Poststempel eines Briefumschlags, der an Zöppig adressiert ist. Danach wurde der Brief am 25. März 1913 um 1 Uhr nachts in Lübeck abgestempelt und traf bereits 9 Uhr am selben Tag im Meißner Postamt 1 ein. "Acht Stunden für diese Strecke. Das ist für die damalige Zeit schon beachtlich", resümiert der Chef des Städtischen Bestattungswesen Meißen. Höchstwahrscheinlich war der Brief mit dem Nachtzug transportiert worden. Über das Thema "Meißen und das Lottospiel" könnte Schaldach noch Stunden weiterreden. "Da gibt es viel zu erzählen. Zum Beispiel über die Porzellan-Lotterien in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Meißen", sagt er.