SZ + Meißen
Merken

Kreis Meißen: Zahl der Schulschwänzer steigt - weil die Eltern es so wollen

Im vorigen Jahr gab es 283 Verfahren wegen Verstößen gegen die Schulpflicht. Ein jetzt in Meißen verhandelter Fall offenbart aber auch Defizite in den Lernangeboten.

Von Ines Mallek-Klein
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Die Zahl der Schulverweigerer im Landkreis wächst. Die Einstellung der Eltern zur staatlichen Schulpflicht spiele dabei eine entscheidende Rolle, sagen die Mitarbeiter des Kreisschulamtes. Manche Kinder lernen zu Hause weiter, aber längst nicht alle.
Die Zahl der Schulverweigerer im Landkreis wächst. Die Einstellung der Eltern zur staatlichen Schulpflicht spiele dabei eine entscheidende Rolle, sagen die Mitarbeiter des Kreisschulamtes. Manche Kinder lernen zu Hause weiter, aber längst nicht alle. © Claudia Hübschmann

Nossen/Meißen. Moritz* hat sich einen Comic mitgebracht. So ein Bußgeldverfahren vor dem Meißner Amtsgericht kann dauern. Der Grundschüler setzt sich artig auf einen der Besucherplätze im Saal 2, dabei ist er eigentlich eine der Hauptpersonen im Verfahren. Die Zweite ist sein Bruder Paul*. Beide Jungs sind in einem Nossener Ortsteil zu Hause. Sie besuchten die Freie Werkschule in Meißen, allerdings nur bis zum Sommer 2021. Dann wurden sie dort abgemeldet - aber an keiner neuen Schule wieder angemeldet.

Das fiel im November des gleichen Jahres auch dem Schulamt auf, das die Eltern zweimal mahnte und schließlich ein Zwangsgeld erhob. Da die Kinder keine Schule besuchten und es auch keine Genehmigung zu einer anderen Beschulung gab, haben sie gegen die Schulpflicht verstoßen. Zur Rechenschaft gezogen werden in diesem Fall, in dem beide Schüler noch minderjährig sind, natürlich die Erziehungsberechtigten, also die Eltern.

Das Bußgeldverfahren gegen Familie S. ist kein Einzelfall. Mit Sorge beobachten die Mitarbeiter des Kreisschulamtes, dass immer öfter Kinder unentschuldigt der Schule fernbleiben. Seit Jahresbeginn wurden schon 175 Verfahren eingeleitet, das sind mehr als im Gesamtjahr 2019, wo von Januar bis Dezember insgesamt 159 Fälle bearbeitet werden mussten. Die Gründe für die Schulverstöße seien sehr verschieden, so eine Sprecherin des Landratsamtes. Ausschlaggebend sei neben den Familienstrukturen auch die Rechtsauffassung der Eltern gegenüber der staatlichen Schulpflicht. Diese werden teilweise angelehnt.

Überfordert mit der Situation

Familie S. erklärt in der Verhandlung, dass sie die Schulpflicht selbstverständlich nicht infrage stelle. Allerdings habe es gute Gründe gegeben, die Kinder zu Hause zu lassen. Paul ist krank und auf den Rollstuhl angewiesen. Der tägliche zweistündige Schulweg und der Unterricht hätten ihn schlichtweg überfordert, so die Mutter. "Sein Alltag bestand nur noch aus Schule und Schlafen", sagt die Diplomübersetzerin. Man habe nach Alternativen gesucht, doch die nächstgelegene Schule, in der Paul mit seinen Handicaps besser zurechtkomme, liege in Dresden. Das bedeute aber einen noch längeren Fahrweg.

Moritz besuchte die Grundschule. Ihm habe man die ständigen Coronatests ersparen wollen - und auch das Tragen des Mundschutzes. "Wir waren mit den damaligen Maßnahmen nicht einverstanden", fasst es der Familienvater sehr diplomatisch zusammen. Darüber hinaus trat das Masernschutzgesetz in Kraft, das für Schulkinder eine Impfung vorschreibt. "Wir sind im Frühjahr 2021 von der Freien Werkschule auf die fehlende Impfung aufmerksam gemacht worden", so der Vater. Mit der Abmeldung von Moritz habe man quasi die drohende Kündigung vorweggenommen.

So weit, so gut. Aber die beiden Kinder hätten an einer anderen Schule angemeldet werden müssen, beziehungsweise hätte es für Paul auch die Möglichkeit gegeben, mithilfe eines ärztlichen Attestes eine wenn auch nur vorübergehende Befreiung von der Schulpflicht zu erwirken. Warum man das nicht versucht habe, will die Richterin wissen. Man sei überfordert gewesen mit der gesamten Situation, räumt die Mutter ein.

Das Kreisschulamt musste reagieren und hat im Sommer 2022 zwei Bußgeldbescheide erlassen. Die Eltern sollen jeweils 600 Euro Strafe zahlen, insgesamt 1.200 Euro. Dagegen hatten sie fristgerecht Widerspruch eingelegt, worüber nun das Amtsgericht Meißen zu entscheiden hatte. Die Richterin machte darauf aufmerksam, dass der gesetzliche Rahmen eine viel höhere Strafzahlung zulasse. Bis zu 1.250 Euro könne das Bußgeld bei Verstößen gegen die Schulpflicht betragen - für jeden einzelnen Fall. Strafverschärfend wirke in diesem Falle, dass die Kinder über einen sehr langen Zeitraum - nämlich ein komplettes Schuljahr - keine Bildungseinrichtung besucht hätten.

Kein Widerspruch gegen Beschluss

Die Richterin interessierte vor der Beschlussfassung, wie und wo die Kinder jetzt lernen. Moritz besucht seit dem vergangenen Herbst die Pestalozzischule in Meißen. "Ja, das Jahr zu Hause war cool, aber manchmal war es auch ein bisschen langweilig", sagt er. Gelernt habe er trotzdem, versichert seine Mutter - und ganz offenbar auch wenig verpasst, denn seine jetzigen Zensuren seien sehr gut.

Paul lernt weiter zu Hause, allerdings mit professioneller Begleitung. Er ist Teilnehmer in einem Pilotprojekt. Es trägt den Namen Online-Lernzeit Mittweida, kurz OLM, und bietet Schülern die Möglichkeit zum Onlineunterricht. Ein Lehrer betreut virtuelle Kleingruppen von bis zu sieben Schülern mit zehn bis 20 Wochenstunden. Die gleiche Anzahl von Stunden gibt es individuelle Unterrichtseinheiten für jeden Schüler. Paul komme damit gut zurecht, allerdings sei noch offen, wie lange das Projekt laufe. Es sei vor allem für Schüler gedacht, die nach Unfällen oder Operationen vorübergehend zu Hause bleiben müssten, aber nicht für chronisch kranke Kinder.

Bei der Straffestsetzung ließ die Richterin Milde walten. Sie trennte die Verfahren und legte mit Blick auf das Einkommen in dem Ein-Verdienerhaushalt Strafzahlungen von jeweils 200 Euro für die beiden Eltern fest, weil Moritz die Schule geschwänzt hat. Das Fernbleiben von Paul wertete sie weniger streng und setzte ein Bußgeld von jeweils 100 Euro für beide Elternteile fest, die nun in Summe 600 Euro zahlen müssen. Eine vergleichsweise geringe Strafe. Im Gesamtjahr 2022 wurden Bußgelder in Höhe von insgesamt rund 40.500 Euro verhängt, eine Rekordsumme, denn im Vorjahr waren es bei 131 Verfahren gerade einmal 13.600 Euro.

Familie S. will keinen Widerspruch gegen den Beschluss einlegen, damit ist er rechtskräftig. Moritz hat während der Verhandlung in seinem Comic einige Seiten geschafft. Er freut sich auf zu Hause und auf die Schule am nächsten Tag.

*Der vollständige Name ist der Redaktion bekannt