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"Ich habe geschrien, konnte nicht mal weinen"

Constanze Hegewald aus Niederau hat das Schlimmste erlebt, was einer Mutter passieren kann. Sie hat ein Kind verloren. Durch einen Verkehrsunfall.

Von Jürgen Müller
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Constanze Hegewald aus Niederau verlor ihren Sohn bei einem Unfall. Mischlingshündin Lissy spendet ein wenig Trost.
Constanze Hegewald aus Niederau verlor ihren Sohn bei einem Unfall. Mischlingshündin Lissy spendet ein wenig Trost. © Claudia Hübschmann

Niederau. Es ist halb drei Uhr nachts an jenem 12. Dezember 2020, als die Niederauerin Constanze Hegewald durch lang anhaltendes Klingeln aus dem Schlaf gerissen wird. Wer kann das sein, um diese Zeit? Ihr Sohn Tom übernachtet bei einem Freund, er hat ja auch einen Schlüssel. Über den elektronischen Öffner betätigt sie die Hauseingangstür, hört Schritte die Treppe hinaufkommen. Es sind nicht die Schritte von Tom, die kennt sie. Als sie die Wohnungstür öffnet, sieht sie vier Personen: einen Polizisten und eine Polizistin in Uniform und zwei weitere Frauen, von denen sie nicht weiß, wer sie sind.

Die Unfallstelle an der Staatsstraße 81 zwischen Buschhaus und Großdobritz. Sie erinnert an den Tod des 20-jährigen Tom Hegewald.
Die Unfallstelle an der Staatsstraße 81 zwischen Buschhaus und Großdobritz. Sie erinnert an den Tod des 20-jährigen Tom Hegewald. © Claudia Hübschmann

"Können wir bitte mal reinkommen?", fragt die Polizistin. In der Wohnung bittet sie Constanze Hegewald, sich hinzusetzen. "Es gab einen Unfall auf der Staatsstraße 81. Ihr Sohn wurde dabei tödlich verletzt", sagt die Beamtin.

Constanze Hegewald steht unter Schock. Sie schreit immer nur "nein, nein, nein"! "Es war wie im Film, wie ein böser Traum. Ich hoffte, daraus zu erwachen", sagt sie. Aber es ist kein Albtraum, es ist Wirklichkeit. Die 47-Jährige kann das Unfassbare nicht fassen. "Ich konnte nicht mal weinen", sagt sie. Sie hat das Schlimmste erlebt, was einer Mutter passieren kann: Sie hat ein Kind verloren. Durch einen Verkehrsunfall.

Ihr Sohn war in jener Nacht bei einem Freund, wollte bei ihm übernachten. Mit dem BMW des 18-jährigen Fahranfängers sind sie unterwegs zwischen Buschhaus und Großdobritz. Laut Mitteilung der Staatsanwaltschaft soll der Fahrer auf einem kurvenreichen Streckenabschnitt mit einer Geschwindigkeit von mindestens 79 Kilometern pro Stunde, die nicht den Verkehrsverhältnissen angepasst war, unterwegs gewesen sein. Ausgangs einer Linkskurve habe er auf trockener Fahrbahn die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Dieses geriet ins Schleudern, kam nach rechts von der Fahrbahn ab und kollidierte zunächst mit einem Leitpfosten. Dann rutschte es eine Böschung hinab und überschlug sich auf der Beifahrerseite.

Der Beifahrer starb aufgrund seiner schweren Verletzungen noch an der Unfallstelle. "Anders als der Beschuldigte – der nur leichte Verletzungen erlitt – war der geschädigte Beifahrer nicht angeschnallt", heißt es in einer Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Dresden vom 23. Juli 2021.

Die Freundin bricht zusammen

Die beiden Frauen in Zivil sind Seelsorgerinnen, die sich nun um Constanze Hegewald kümmern. Sie ruft ihre Eltern an, ihren Bruder. Ihr großer Sohn, der in der Schweiz lebt und arbeitet, eilt gleich am nächsten Tag zu ihr. Auch Saskia Arlt, die Mutter von Toms Freundin, ruft sie an. Sie kommt mitten in der Nacht, um Beistand zu leisten. Den Mut und die Kraft, ihrer Tochter den Tod ihres Freundes beizubringen, hat sie aber nicht. Eine Seelsorgerin begleitet sie. "Meine Tochter ist zusammengebrochen. Sie hat heute noch mit dem Verlust ihres Freundes zu kämpfen. Mal gibt es gute Tage, mal schlechte, dann zieht sie sich total zurück. Ich hatte Angst, wie sie die Nachricht verkraftet, Angst, dass sie sich was antut", sagt Saskia Arlt.

In den folgenden Tagen ist die Wohnung von Constanze Hegewald voll. "Die ganzen Jugendlichen waren hier, haben mit mir getrauert. Tom war sehr beliebt", sagt sie. Sie möchte ihren Sohn noch einmal sehen, doch ihr wird davon abgeraten. Sie solle ihn so in Erinnerung behalten, wie sie ihn kannte. "Dass ich mich von ihm nicht verabschieden konnte, das belastet mich sehr", sagt sie.

Ein Jahr lang ist Constanze Hegewald krank, muss sich in psychologische Behandlung begeben, nimmt bis heute Antidepressiva. "Es gab auch einen Punkt, an dem ich nicht mehr wollte", sagt die 47-Jährige. Den hat sie überwunden. Ein Jahr lang habe es gedauert, bis sie das Unfassbare langsam zu fassen bekam. Nur in Begleitung konnte sie in den Friedwald gehen, wo ihr Sohn beigesetzt ist. "Auch heute sitze ich manchmal da, warte darauf, dass die Tür aufgeht und dass Tom hereinkommt", sagt sie. Doch er kommt nicht. Er wird nie mehr kommen.

Mittlerweile hat sie Rituale gefunden, um mit der Trauer fertig zu werden. Hat eine Ecke eingerichtet im Wohnzimmer mit dem Bild ihres Sohnes und vielen Kerzen. "Dann rede ich mit ihm, sage, es ist ja wieder sehr dunkel hier bei dir, und zünde die Kerzen an. Die Trauer ist wie eine Welle, wie Ebbe und Flut."

Seit der Unfallnacht wird Constanze Hegewald von ihrer Familie und Freunden unterstützt. Auch der gemeinsame Freundeskreis von Tom und dem Unfallverursacher hat ihr bis heute beigestanden "Das rechne ich den jungen Leuten hoch an und bedanke mich für das Mitgefühl. Keine Selbstverständlichkeit, denn auch die jungen Erwachsenen waren sehr betroffen", sagt sie.

Trost spendet ihr seit einigen Monaten Lissy, eine Mischlingshündin. Mit ihr hat sie es das erste Mal geschafft, allein in den Friedwald zu gehen. "Dort kann ich Ruhe finden, Kraft tanken durch das Zwitschern der Vögel", sagt sie.

Eine Entschuldigung gewünscht

Vor einigen Tagen saß der Unfallfahrer wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Die Verhandlung fand vor dem Jugendrichter statt. Constanze Hegewald war Nebenklägerin. "Ich wollte ihn sehen, wollte wissen, was er dazu sagt, wie der Unfall passiert ist. Das bin ich meinem Sohn schuldig", sagt sie.

Dass der Angeklagte nur 1.000 Euro zahlen und an einem Fahrsicherheitstraining teilnehmen muss, interessiert sie dabei wenig. "Ich hätte mir schon gewünscht, dass er für einige Zeit seinen Führerschein abgeben muss. Er hat den Unfall zwar nicht absichtlich verursacht. Wahrscheinlich lag eine Unachtsamkeit, ein Momentversagen, eventuell auch eine Fehleinschätzung beim damals noch unerfahrenen Fahranfänger vor. Aber ein wenig Reue, eine Entschuldigung, die hätte ich schon erwartet. Doch da kam leider nichts", so die Niederauerin. Wenigstens habe ihr die Staatsanwältin ihr Mitgefühl ausgedrückt und ihr viel Kraft gewünscht.

Im April wird es noch ein Zivilverfahren geben, um die Schadenersatzansprüche der beteiligten Versicherungen zu entscheiden. Auch das wird für Constanze Hegewald noch mal schwer. Laut der Mutter gibt es ein technisches Gutachten, dass ihr Sohn doch angeschnallt gewesen sei. Aber sie weiß auch: Kein Geld der Welt bringt ihr ihren Sohn zurück. "Tom lebt in meinem Herzen weiter. Er hätte wohl gesagt, lebe dein Leben weiter. Aber nichts wird jemals wieder so werden, wie es war", sagt sie.

Im April will Constanze Hegewald nach Meißen umziehen in eine kleinere Wohnung. Die jetzige ist für sie allein zu groß. "Außerdem ertrage ich es nicht, Toms Zimmer zu sehen", sagt sie und öffnet die Tür. Sie hat nichts angerührt, alles ist noch so wie vor dem Unfall. Sie zeigt auf den Tisch und einen Drehstuhl. "Hier wird Tom nie wieder sitzen", sinniert sie. Die Tränen, die sie die ganze Zeit mühsam zurückgehalten hat, fließen nun doch.