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Teller abessen, Klimawandel stoppen

Die Münchner Sozialunternehmerin Günes Seyfarth rettet Lebensmittel und betreibt damit das Restaurant Community Kitchen.

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Von Susanne Böllert

Wer seinen Teller abisst, sorgt für gutes Wetter. Das haben uns schon unsere Eltern erzählt, und wir erzählen es unseren Kindern. Günes Seyfarth aus München geht noch einen Schritt weiter. Sie sagt: „Zu essen, was eh schon da ist, rettet das Klima.“ Seit zehn Jahren ist die 42-Jährige als Lebensmittelretterin unterwegs und stemmt seit einigen Monaten gemeinsam mit Judith Stiegelmayr ein Social Business, das Seinesgleichen sucht: Ihre in einem ehemaligen Versicherungsgebäude beheimatete „Community Kitchen München“ kombiniert Lebensmittelverwertung mit Klimaschutz und ist darüber hinaus ein Bildungs- und Sozialprojekt.

Die Zwischennutzung von 42.000 Quadratmetern inklusive einer perfekt ausgestatteten Großküche ist auf fünf Jahre angelegt. Nach einem mehrmonatigen Testlauf, als professionelle Köche und freiwillige Schnippelhilfen schon die diversen Untermieter des Gebäudes mit frischem, gesundem Essen versorgten, lädt inzwischen auch das öffentliche Restaurant der Com-Kit Food GmbH zum Mittagessen ein. „Für 5,50 Euro gibt es ein warmes Gericht. Nachschlag ist kostenlos. Wer weniger isst, zahlt auch weniger. Und wer es sich leisten kann, ermöglicht durch seine Spende einer bedürftigen Person ebenfalls ein warmes Essen“, erklärt Günes das Konzept.

Gelb, grün, orange, rot und lila leuchten die Kürbisse, Zucchini, Auberginen, Avocados, Möhren und Tomaten, die vor der Lebensmittelretterin auf dem Tisch liegen. Wenn sie und ihr Team am Morgen nicht ausgerückt wären, läge das ganze gute Gemüse jetzt im Müll. Stattdessen serviert die Community Kitchen überbackene Tomaten, Gemüse-Pancakes mit Zucchini, Avocado-Toast und Mandarinen-Erdbeer-Smoothies. Wer mag, bekommt noch ein gesundes Birchermüsli mit Hafermilch oder lässt sich ein Spiegelei braten.

Jeden Tag werden Lebensmittel tonnenweise entsorgt

„Allein in München werfen die Privathaushalte 165 Tonnen verzehrfähiges Essen weg. Pro Tag. Der Abfall aus Restaurants und Supermärkten kommt noch on top“, sagt Günes Seyfarth und beschreibt den Weg, den ein Drittel aller weltweit produzierten und noch verzehrfähigen Lebensmittel geht: „Sie werden angebaut, gewässert, gedüngt, wobei Pestizide und Dünger ins Grundwasser gelangen, sie werden geerntet, wofür Maschinen und Manpower eingesetzt werden. Anschließend werden die Lebensmittel gewaschen, verpackt, in den Supermarkt geliefert – und weggeschmissen.“ Anders ausgedrückt: Alles, was zwischen 1. Januar bis Ende April produziert wird, landet in der Tonne. Die Weltgesundheitsorganisation geht von 1,3 Milliarden weggeworfenen Tonnen Essen pro Jahr weltweit aus, für Deutschland von zwölf Millionen Tonnen.

Diese Absurdität ist nicht nur angesichts des Hungers auf der Welt eine moralische Katastrophe, sondern auch eine ungeheure Ressourcenverschwendung. „Aus diesem Grund ist der Stopp der Lebensmittelverschwendung die wirksamste Methode im weltweiten Klimaschutz, wenn wir das Ziel von zwei Grad Klimaerwärmung erreichen wollen“, zitiert Günes das internationale Klimaschutzprojekt Drawdown.

Schon vor einigen Jahren hat die Tochter türkischer Einwanderer den Verein „Foodsharing München“ gegründet und eine mehrtägige Foodtruck-Aktion auf die Beine gestellt. An verschiedenen Standorten in der Stadt gab sie Essen aus geretteten Lebensmitteln an die Menschen aus, kostenlos und mit großer Resonanz.

Foodsharing auch in Dresden

Auch in Dresden gibt es einen Foodsharing-Verein. Seine Mitglieder holen im Handel, in der Gastro oder auch in Privathaushalten übrig gebliebene Lebensmittel ab, sortieren sie, bereiten sie auf und bestücken damit „ Fairteiler“, also Abholstellen, an denen sich Interessierte bedienen können. Ronny Zenker von Foodsharing Dresden sagt: „Was die Community Kitchen München leistet, ist fantastisch. Da wir aber alle ehrenamtlich arbeiten, dürfen wir die Lebensmittel, die wir kostenlos erhalten, auch nur kostenlos weitergeben und nicht verkaufen.“

Günes Motivation für ihre Großaktionen – die ehemalige Tanzlehrerin hat bereits eine Krippe gegründet und ist als Business Coach für Gründerinnen im Einsatz – zieht sie aus ihren drei Söhnen. Die sind acht, zehn und zwölf und sollen eine Welt erleben, in der weder Klimakatastrophen noch Gedankenlosigkeit und Egoismus überhandnehmen. „Dass so viele Top-Lebensmittel weggeschmissen werden, hängt auch mit unserer Bequemlichkeit zusammen und unserem Anspruch, dass immer alles verfügbar sein muss. Kaum einer fragt sich, was am Samstagabend eigentlich mit den Regalen voller Brötchen und Beeren passiert“, sagt Günes.

Während Günes als Foodsaverin schon lange Kooperationen mit Münchner Betrieben – vom Viktualienmarkt bis zur kleinen Bäckerei – pflegt und deren Spenden an Bedürftige weitergibt, läuft die Lebensmittelrettung in der Community Kitchen noch eine Nummer größer ab. 2.000 warme Mahlzeiten können die Community-Köche täglich zubereiten. Wobei sie größtes Improvisationsgeschick beweisen müssen, denn was genau die Lebensmittelretter am Morgen bei Großhändlern und Produzenten, bei Supermarktketten und Lieferanten einsammeln, erfahren sie erst, wenn die frische Beute in ihrer Großküche gelandet ist. In wenigen Stunden entstehen hier schmackhafte Gerichte wie gefüllte Paprika mit Reis und Salat oder Frischkäse-Schmand-Brownies. Nicht nur freiwillige Küchenhelfer aus der Nachbarschaft lernen in der Community Kitchen, ob abgelaufene Lebensmittel noch verzehrfähig sind und wie sie haltbar gemacht werden können, auch Schulklassen werden in Workshops an das Thema herangeführt. „Manche schälen hier zum ersten Mal einen Apfel“, hat Günes beobachtet, für die Aufklärung und Bildung der Schlüssel zur sozialen Teilhabe sind.

Die „Marke im Glas“ ist neben einem geplanten Schul- und Firmencatering der nächste Schritt im Weltverbesserungsprogramm der Klimaschützerin und Social Entrepreneurin Seyfarth: Eingemachtes und Gedörrtes aus geretteten Lebensmitteln wird an Firmen verschickt, die ihren Kunden oder Mitarbeitern etwas Gutes tun wollen. „Die Anfragen kommen aus ganz Deutschland. Für Ende des Jahres planen wir, mit der ‚Marke im Glas‘ auch im Einzelhandel bundesweit vertreten zu sein“, sagt die Münchnerin. Interessierte Supermärkte können über www.community-kitchen.com Kontakt aufnehmen.

In Dresden hat Ronny Zenker mit seinem Unternehmen Bailando eine kleinere, aber ähnlich ausgerichtete Initiative entwickelt. Aus geretteten Lebensmitteln, die ihm Großmärkte „für kleines Geld“ überlassen, produziert er Aufstriche, Chutneys, Marmeladen und Suppen, die er auf Wochenmärkten, in Cafés, (Unverpackt-)Läden und online bei „Marktschwärmer.de“ verkauft. „Lebensmittelrettung hat so viele positive Aspekte“, sagt Zenker, „für den Umweltschutz, für eine gerechtere Verteilung von Ressourcen, und sie steigert ganz einfach unsere Wertschätzung für unsere Lebensgrundlage.“ In Vorträgen, Kochworkshops und Nachernte-Events gibt Zenker sein Wissen weiter.

  • Auch in Dresden wird Schmackhaftes aus abgelaufenen, aber verzehrfähigen Lebensmitteln zubereitet. „Zur Tonne“, eine Ausgründung der Dresdener Tafel, ist schon lange mit der Fahrradküche in der Stadt unterwegs und seit April immer dienstags in der evangelisch-lutherischen Prohliser Kirchengemeinde. Hier wird aus ausgewählten frisch verarbeiteten Lebensmitteln der Tafel ein Mittagessen mit Vor- und Hauptspeise, Dessert und Kaffee für 1,50 Euro gezaubert.
  • In Koch- und Bildungsworkshops lernen Schüler und Erwachsene, die Ressourcenverschwendung durch Lebensmittelrettung zu reduzieren.
  • Mehr auf www.zur-tonne.de