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Im Angesicht einer Mörderin

Am 11. September 1852 trifft das Richtschwert den Hals von Henriette Rehn aus Markersbach. Zwei Heimatforscher entdecken ihre Story. Und ihren Kopf.

Von Jörg Stock
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Beklemmendes Relikt: Der Abguss von Henriette Rehns totem Antlitz hat als Büste überdauert. Sie ist heute Teil der Anatomischen Lehrsammlung an der Medizinischen Fakultät der Uni Leipzig.
Beklemmendes Relikt: Der Abguss von Henriette Rehns totem Antlitz hat als Büste überdauert. Sie ist heute Teil der Anatomischen Lehrsammlung an der Medizinischen Fakultät der Uni Leipzig. © Anton Stolle / Universität Leipzig

Wer da glaubt, die Gesichtszüge eines Menschen könnten dessen Charakter verraten, der wird vom Antlitz Henriette Rehns eines Besseren belehrt: Schön geschnitten ist es, wirkt ebenmäßig und friedvoll, so, als sei sie mit sich und der Welt im Reinen. Und doch ist es das Antlitz einer Frau, die ihr Kind grausam umbrachte, und die, als der Abdruck ihres Gesichts verfertigt wird, bereits den Kopf durch das Richtschwert verloren hat.

Der Henker hat einen schlechten Tag

Der Fall der Kindsmörderin Henriette Rehn aus Markersbach sticht heraus im Fluss sächsischer Kriminalgeschichte. Ihre Exekution am Morgen des 11. September 1852 auf dem Dresdner Alaun-Platz war die letzte in Sachsen, die öffentlich mit dem Schwert ausgeführt wurde. Das Schauspiel, durch Missgeschick des Henkers allzu blutig geraten, erzeugte eine Schockwelle. Mehr als fünfzig Jahre wurde die Todesstrafe für Frauen nicht mehr angewandt. Danach schwenkte man auf Technik um - das Fallbeil.

Zwei Köpfe, eine Leidenschaft: Die Heimatforscher Marco Schröder (r.) und Matthias Schildbach haben das Schicksal der Kindsmörderin Henriette Rehn aufgedeckt.
Zwei Köpfe, eine Leidenschaft: Die Heimatforscher Marco Schröder (r.) und Matthias Schildbach haben das Schicksal der Kindsmörderin Henriette Rehn aufgedeckt. © Matthias Schildbach

Marco Schröder kann es noch immer kaum glauben, dass er der Erste sein soll, der nach 170 Jahren den aufsehenerregenden Mord- und Justizfall der Henriette Rehn ans Licht gezogen und darüber ein Buch geschrieben hat. Doch so wird es wohl sein. Sämtliche Akten hätten quasi unberührt im Sächsischen Staatsarchiv gelagert, sagt er. "Das grenzt fast an ein Wunder."

Idee zum Buch rumort im Kopf

Ein Wunder ist es nicht, dass ausgerechnet Marco Schröder die Sache in die Hand nahm. Der 43-Jährige ist Geschichtslehrer und stammt aus Markersbach, jenem Waldhufendorf, das nicht so recht weiß, ob es noch Sächsische Schweiz ist oder schon Osterzgebirge. Mehr als dreihundert Jahre lebt Schröders Familie im Ort. Seither haben sich immer wieder persönliche Verbindungen auch zur Familie Henriette Rehns ergeben.

"Die Täterin war auch Opfer." Marco Schröder in der Markersbacher Kirche. Hier betete auch Henriette Rehn, letztmalig wohl zum Himmelfahrtstag 1849.
"Die Täterin war auch Opfer." Marco Schröder in der Markersbacher Kirche. Hier betete auch Henriette Rehn, letztmalig wohl zum Himmelfahrtstag 1849. © Matthias Schildbach

Neben Geschichte lehrt Marco Schröder Deutsch. Dass er schreiben kann, versteht sich. Etwa zwei Dutzend familien- und heimatkundliche Abhandlungen hatte er bereits verfasst und in kleinem Rahmen veröffentlicht. Doch er hatte Lust auf mehr. "Die Idee, ein Buch zu schreiben, rumorte schon seit Jahren in meinem Kopf", sagt er. Der Fall Rehn, der anekdotenhaft noch immer in Markersbach herumgeisterte, schien der passende Stoff zu sein.


Ein Heimatforscherkollege gab den letzten Anstoß zum Projekt: Matthias Schildbach. Der gelernte Buchhändler aus Kreischa hatte bereits einen Namen als "Bombersucher". Akribisch war Schildbach der Spur abgestürzter US-Bombenflugzeuge des Zweiten Weltkrieges gefolgt und hatte zwei Bücher darüber verfasst, wofür er 2019 den Sächsischen Landespreis für Heimatforschung erhielt.

"Spuren in der Landschaft finden." Matthias Schildbach vor dem einstigen Elternhaus Henriette Rehns in Markersbach. In der Hand das druckfrische Buch zum "Fall Rehn".
"Spuren in der Landschaft finden." Matthias Schildbach vor dem einstigen Elternhaus Henriette Rehns in Markersbach. In der Hand das druckfrische Buch zum "Fall Rehn". © Egbert Kamprath

Der Selbstverleger Schildbach war genau der, den Marco Schröder als Co-Autor brauchte. Schildbach hatte 2020 einen ähnlichen wie den Rehn-Fall recherchiert, den der Magd Rosina Heschel, die ihr Neugeborenes auf dem Scheunenboden hatte sterben lassen. Er war sicher: Der Fall Rehn, grauenhafter und folgenreicher als die Causa Heschel, würde die Leser fesseln. "Wenn Marco das Buch nicht geschrieben hätte", sagt Schildbach, "hätte ich es getan."

Der Kriminalfall bekommt ein Gesicht

Nun haben sie es beide getan: Marco Schröder, der Perfektionist, durchforstete die Justizakten und schrieb das Manuskript. Mehr als achtzig Prozent der gut 270 Buchseiten, sagt er, stützen sich auf greifbare Quellen. Matthias Schildbach, der sich als Macher sieht, reiste übers Land, suchte Schauplätze, Fotos, alte Landkarten. Und er entdeckte die Täterin selbst - in Gips.

"Mit dem Geld streng haushalten." Ihr Markersbacher Haus mussten die Rehns 1830 verkaufen. Dieses Foto vom Anwesen entstand fast hundert Jahre später.
"Mit dem Geld streng haushalten." Ihr Markersbacher Haus mussten die Rehns 1830 verkaufen. Dieses Foto vom Anwesen entstand fast hundert Jahre später. © Archiv Marco Schröder

Schildbach hatte gehört, dass an der Dresdner Chirurgisch-medizinischen Akademie, wohin man damals die Leichname Hingerichteter zu Studienzwecken schaffte, auch Totenmasken gefertigt wurden. Ins Blaue hinein schrieb er an die Erbin des Instituts, die Uniklinik. Ob in der Sammlung eventuell die Mörderin Rehn vorhanden wäre. "Die Chancen hielt ich für gleich null." Doch die Büste existierte tatsächlich, nunmehr in der Anatomischen Lehrsammlung der Uni Leipzig. Eine Sternstunde für den Heimatforscher. "Das war einfach genial!"

Frühe Pflicht zur harten Arbeit

Johanna Christiane Henriette Rehn kommt im Februar 1822 als ältestes von drei Kindern eines Zimmerermeisters und einer Dienstmagd in Markersbach zur Welt. Die Verhältnisse sind ärmlich und werden schier katastrophal, als der Vater und Ernährer - Henriette ist kaum sieben Jahre alt - plötzlich stirbt. Die Mutter, von Schulden gedrückt, muss das Haus verkaufen und sich als "Leichenfrau" verdingen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten.

Kammer im einstigen Müllerschen Gut Wilmsdorf. Womöglich hat Henriette Rehn hier mit dem Sohn der Herrschaft heimlich ihr drittes Kind, das spätere Mordopfer, gezeugt.
Kammer im einstigen Müllerschen Gut Wilmsdorf. Womöglich hat Henriette Rehn hier mit dem Sohn der Herrschaft heimlich ihr drittes Kind, das spätere Mordopfer, gezeugt. © Matthias Schildbach

Henriette war bereits mit zwölf mehr oder weniger ganz eingebunden in den Broterwerb für die Familie. Als 18-Jährige verließ sie Markersbach, um als Magd in der Landwirtschaft ein eigenes Leben zu beginnen. Doch schon im ersten Dienstjahr schwängerte sie ein Knecht. Auf zwei weiteren Arbeitsstellen wurde sie von den Söhnen der Hofbesitzer schwanger.

Kind stört auf dem Weg ins Glück

Ihre Hoffnung, geheiratet zu werden, die Kinder zu legitimieren, und sich selbst einen bescheidenden Wohlstand zu verschaffen, zerschlug sich. Schwangerschaft, so erfuhr sie, führt zum Verlust der Stellung und zur gesellschaftlichen Ächtung. Das, so denkt Matthias Schildbach, hat die Hartherzigkeit Henriettes gegen ihre Kinder befördert. Doch als Ausweg einen Mord verüben? "Das ist für mich nicht nachvollziehbar."

Das ehemalige Gasthaus "Churfürstens Hof" (Postkarte um 1930) im Dresdner Elbgässchen, wo Henriette Rehn Schankmagd war. Wenige Schritte von hier lag der Tatort.
Das ehemalige Gasthaus "Churfürstens Hof" (Postkarte um 1930) im Dresdner Elbgässchen, wo Henriette Rehn Schankmagd war. Wenige Schritte von hier lag der Tatort. © Repro: Schildbach

Als Henriette, inzwischen Schankmagd in Dresden, mit einem Soldaten des örtlichen Schützen-Regiments "Prinz Georg" bekannt wird und einmal mehr auf einen Antrag hofft, sieht sie ihre uneheliche Tochter Amalie als letztes Hindernis auf dem Weg zum Glück. Am Abend des 4. Mai 1852 stößt sie das zweijährige Mädchen im Dämmer eines Hinterhofs ins Plumpsklo, wo es qualvoll an den Fäkalien erstickt.

Schon Tags darauf beginnt das Verbrechen ruchbar zu werden, weil die gütige Greisin, in deren Obhut die Kleine zuletzt lebte, misstrauisch wird. Am 8. Mai folgt Henriettes Verhaftung, am 12. Mai ihr Geständnis. Die Todesstrafe ist unausweichlich, entscheiden alle Instanzen, bis hinauf zum König. So kommt es zu den abscheulichen Szenen auf dem Blutgerüst. Weil er schlecht trifft, muss der Scharfrichter noch zweimal auf die am Boden Liegende einschlagen, bis das Haupt vollends abgetrennt ist.

Versuch einer künstlerischen Rekonstruktion des Hinterhofs Elbgässchen 2, Dresden. Hier tötete Henriette Rehn ihr Kind, indem sie es in die Latrine warf.
Versuch einer künstlerischen Rekonstruktion des Hinterhofs Elbgässchen 2, Dresden. Hier tötete Henriette Rehn ihr Kind, indem sie es in die Latrine warf. © Zeichnung: Mario Wiese

Juristisch betrachtet, war Henriette schuldig. Marco Schröder aber sagt, dass die Täterin auch ein Opfer war, Opfer der Verhältnisse, Opfer ihrer unerfüllten Wünsche und zerstörten Hoffnungen. Opfer vielleicht auch einer seelischen Erkrankung? Der Verteidiger hatte das ins Feld geführt, jedoch erfolglos. "Die Justiz nahm das nicht weiter ernst", sagt Matthias Schildbach. Mutmaßungen in dieser Frage vermeiden die Autoren. "Wir betreiben keine Psychoanalyse", sagt Schildbach. "Wir erzählen einen Kriminalfall."

Marco Schröder, Matthias Schildbach: Der Fall Rehn. Sachsens letzte öffentliche Hinrichtung mit dem Schwert. Selbstverlag. 276 Seiten kosten 29,80 Euro. Zu kaufen im regionalen Buchhandel oder online.