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Nach Messerattacke in Pirna: Juras Tod bleibt wohl für immer ungesühnt

Die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren gegen den Tatverdächtigen eingestellt. Eine Beschwerde dagegen blieb erfolglos, die Hinterbliebenen sind entsetzt.

Von Thomas Möckel
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Grab von Jura auf dem Pirnaer Friedhof: "Die Familie ist zutiefst frustriert."
Grab von Jura auf dem Pirnaer Friedhof: "Die Familie ist zutiefst frustriert." © Daniel Förster

Mehr als ein Jahr ermittelte die Staatsanwaltschaft, mehr als ein Jahr lang gab es keine konkreten Ergebnisse. Auf regelmäßige Nachfragen teilte die Behörde mit, es handle sich um ein komplexes Verfahren mit einer komplexen Beweislage. Auskünfte zum Zwischenstand gebe man keine, um die Ermittlungen nicht zu gefährden – im Fall Jura. Mitte Oktober 2023 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren überraschend ein. Und nun sieht es so aus, dass Juras Tod wohl für immer ungesühnt bleibt. "Damit hätte ich nicht gerechnet", sagt Rechtsanwalt Ulli Boldt, der die Eltern des Toten vertritt.

Der damals 20-jährige Jürgen L., von seinen Freunden Jura genannt, war am 24. September 2022 in dem kleinen Park vor der Commerzbank mitten in der Pirnaer Innenstadt eines gewaltsamen Todes gestorben, an den Folgen einer Stichverletzung im Bauch, die ihm ein anderer mit einem Messer zugefügt hatte. Polizisten, Rettungskräfte und eine Notärztin kämpften über eine halbe Stunde um das Leben des jungen Mannes, sie konnten aber letztendlich nichts mehr für ihn tun.

Tatverdächtig war ein damals 15-jähriger Jugendlicher. Die Staatsanwaltschaft ging kurz nach der Tat zunächst dem Verdacht eines Tötungsdelikts nach, ermittelte dann aber wegen des Verdachts einer Körperverletzung mit Todesfolge. Laut der Behörde bestand ein Anfangsverdacht gegen den Beschuldigten, dem 20-jährigen Jura in Verletzungsabsicht mit einem Messer in den Bauch gestochen zu haben. Und schon damals teilte die Staatsanwaltschaft mit, dass eine Notwehrlage nicht ausgeschlossen werden könne.

Neutrale Zeugen und objektive Beweismittel fehlen

Mit Verfügung von 5. Oktober 2023 – mehr als ein Jahr nach Juras Tod – stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den Tatverdächtigen endgültig ein. Die Ermittlungen hätten keinen genügenden Anlass für eine Klageerhebung geboten. Zur Begründung führte die Behörde an, es habe sich erwiesen, dass der Beschuldigte in Notwehr gehandelt habe. Zwar hatte er dem 20-Jährigen ein Messer in den Bauch gestochen, Jura starb an diesen Verletzungen. Umfangreiche Ermittlungen hätten aber ergeben, dass der 20-Jährige den Jugendlichen angegriffen und dieser sich dann dagegen gewehrt habe.

Schon diese Entscheidung ließen Juras Eltern sowie Jurist Boldt fassungslos und schockiert zurück. Vor allem kann der Rechtsanwalt nicht nachvollziehen, wie die Staatsanwaltschaft so eindeutig auf eine Notwehrlage abstellt – zumal sie in der Einstellungsverfügung auch mitteilt, dass man nicht viel wisse über die Tat und sich nicht feststellen lasse, wie sich Juras Tod zugetragen habe. Neutrale Zeugen und objektive Beweismittel gebe es nicht.

Boldt legte daraufhin namens der Familie Beschwerde gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft bei der Generalstaatsanwaltschaft ein – mit dem Ziel, dass die Ermittlungen im Fall Jura fortgeführt werden. Doch dazu wird es aller Voraussicht nach nicht kommen, Juras Tod bleibt wohl für immer ungesühnt. "Die Familie ist nun zutiefst frustriert", sagt Boldt. Er hätte nicht gedacht, dass die Sache so schnell abgehandelt werde.

Generalstaatsanwaltschaft bestätigt Notwehrlage

Knapp einen Monat, nachdem Boldt die Beschwerde eingelegt hat, hat die Generalstaatsanwaltschaft jetzt mitgeteilt, dass sie der Beschwerde nicht stattgibt. Die Behörde habe nach eigener Prüfung entschieden, dass die Einstellung des Verfahrens gegen den zur Tatzeit 15-jährigen Jugendlichen durch die Staatsanwaltschaft Dresden nicht zu beanstanden sei. Nachdem sämtliche Ermittlungsergebnisse erschöpfend gewürdigt und die vom Rechtsanwalt vorgebrachten Argumente berücksichtigt worden seien, entspreche die von der Staatsanwaltschaft angenommene Ablehnung eines für die Anlageerhebung erforderlichen hinreichenden Tatverdachts der Sach- und Rechtslage.

Gegen den Beschuldigten habe der Anfangsverdacht bestanden, dem 20-jährigem Jura am 24. September 2022 mit einem Messer in den Bauch gestochen zu haben. Die Annahme der Staatsanwaltschaft, der Beschuldigte habe zur Abwehr eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs des Geschädigten und somit nicht rechtswidrig gehandelt, sei nach Einschätzung der Generalstaatsanwaltschaft rechtmäßig. Aus den spontanen Einlassungen des Beschuldigten bei seiner Festnahme wie auch aus den maßgeblichen Zeugenaussagen zum Tatgeschehen und zum unmittelbaren Vorgeschehen habe sich ergeben, dass der Beschuldigte in Notwehr gehandelt habe.

Nach den ermittelten Tatsachen und der nachvollziehbaren Entscheidung der Staatsanwaltschaft sei es nach praktischer Erfahrung nicht wahrscheinlich, dass es in einer Hauptverhandlung mit den zur Verfügung stehenden Beweismitteln zu einer Verurteilung kommen würde. Anhaltspunkte für den Vorwurf eines Tötungsdeliktes oder einer unterlassenen Hilfeleistung bestünden nach den Ermittlungsergebnissen nicht.

Parallelen zu einem Fall in Freital

Unterdessen kommt es Boldt noch immer merkwürdig vor, wieso die Staatsanwaltschaft so zwingend auf Notwehr komme, aus seiner Sicht sei das keinesfalls erwiesen. Seiner Kenntnis nach habe der Beschuldigte sonst nie ein Messer dabeigehabt, habe sich aber an jenem 24. September kurz vor der Tat eines geben lassen. Unklar ist Boldt zudem, warum sich der Beschuldigte dann in eine Situation begab, in der er das Messer dann tatsächlich einsetzte. Und warum der Tatverdächtige nicht wegen einer anderen Tat angeklagt wird, erschließt sich dem Rechtsanwalt auch nicht.

Denn der Fall Jura weist Parallelen zu einem Fall in Freital auf. Dabei soll ein damals 17-Jähriger am 27. Januar 2023 in einem Park an der Somsdorfer Straße einem 22-Jährigen schwere Stichverletzungen in den Bauch zugefügt haben. Das Opfer verstarb aufgrund der zugefügten Verletzungen am oder in unmittelbarer Nähe des Tatorts spätestens am frühen Morgen des 28. Januar.

Der Ort, an dem Pascal S. in Freital starb: Der Beschuldigte ist wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt.
Der Ort, an dem Pascal S. in Freital starb: Der Beschuldigte ist wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt. © Daniel Förster

Ermittlungen in dem Fall ergaben, dass der 17-Jährige in Notwehr gehandelt habe. Allerdings hat ihn die Anklagebehörde wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt – weil sich der Beschuldigte vom Tatort entfernt habe, ohne Polizei oder Notarzt zu benachrichtigen, obwohl er wusste, dass der 22-Jährige medizinischer Hilfe bedurfte.

Laut der Generalstaatsanwaltschaft seien Ausführungen zu einer unterlassenen Hilfeleistung in den Entscheidungen zum Fall Jura allerdings nicht veranlasst, da ein solcher Tatbestand in diesem konkreten Fall unter Berücksichtigung aller Umstände fernlag und mithin auch keine Anklageerhebung in Erwägung zu ziehen war.

So sind im Fall Jura nun de facto sämtliche Rechtsmittel erschöpft. Juras Familie kann aber über ihren Anwalt gegen die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft noch eine gerichtliche Entscheidung durch das Oberlandesgericht Dresden – ein sogenanntes Klageerzwingungsverfahren – beantragen. Boldt will sich dazu noch einmal mit der Familie beraten.