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Darum würden viele Schüler in Sachsen die AfD wählen

Hätte die Stimme von Jugendlichen bei der Landtagswahl Gewicht, gäbe es sieben Parteien im Parlament und eine andere Regierung. Was treibt sie?

Von Tobias Wolf
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AfD-Wähler Maurice (v.l.), sein Lehrer Dirk Weißhahn und seine Mitschülerinnen Laura, Tim und Paula haben wegen der Landtagswahl intensiv über Politik diskutiert.
AfD-Wähler Maurice (v.l.), sein Lehrer Dirk Weißhahn und seine Mitschülerinnen Laura, Tim und Paula haben wegen der Landtagswahl intensiv über Politik diskutiert. © Matthias Schumann

Sie sind kritischer als ihre Eltern, legen Wert auf ganz andere Dinge und haben bei der Landtagswahl gezeigt, was der Politik drohen könnte. Würden die Stimmen der Jugendlichen von 200 sächsischen Schulen bei der Juniorwahl zählen, der Freistaat bekäme jetzt eine grüne Ministerpräsidentin, die CDU wäre wie in Baden-Württemberg vielleicht nur Juniorpartner. 

Noch abseitiger mutet der Gedanke an, dass die Union gar nicht mehr gebraucht würde, weil unter den Schülern auch die Tierschutzpartei oder Die Partei über die Fünf-Prozent-Hürde kamen. Und was ist mit der AfD?

Die alte Plattenbauschule am östlichen Stadtrand von Bautzen glänzt wie frisch renoviert. Gelb-orange leuchtet die Fassade. Auf dem Hof der Gottlieb-Daimler-Oberschule ist es ruhig. Drinnen läuft die vierte Stunde. Dirk Weißhahn ist hier Lehrer für Gemeinschaftskunde und Informatik. Der 51-Jährige trägt Jeans und ein fliederfarbenes Hemd. Er ist der Wahlleiter der Schule.

Unter seiner Ägide haben die Klassen neun und zehn den Landtag gewählt, also beinahe, denn die Juniorwahl ist rein fiktiv, soll Jugendlichen aber etwas über Demokratie beibringen, vor allem, wie man wählt. „Man könnte das auch theoretisch vermitteln“, sagt Weißhahn. Aber Praxis ist unschlagbar. In Ostsachsen sehen die Ergebnisse ein bisschen anders aus als in großen Metropolen oder im Rest des Landes.

Schüler in Bautzen machen AfD noch stärker

Bautzen ist bekannt für Senf, aber auch für die Kornmarkt-Krawalle 2016, für Attacken auf Asylsuchende und die Ablehnung von deutschen Nicht-Bautznern, sobald sie sich eine Meinung zur Stadt erlauben. Hier rücken Unternehmer, Politiker und Bürger die Stimmung nach rechts wie kaum anderswo. Eine erwartbar blaue Bastion? Die AfD holte im Wahlkreis Bautzen 5 bei der echten Landtagswahl 36,4 Prozent, 33 Prozent stimmten für die CDU, 7,7 für die Linke, 4,7 für die Grünen und 5,5 für die SPD.

Und die Daimler-Schüler? Sie haben die AfD mit gut 42 Prozent noch stärker gemacht, gut doppelt so stark wie im gesamten Juniorwahlkreis. Dirk Weißhahn breitet Listen auf dem Tisch aus, bunte Grafiken für die Schule und das Sachsenergebnis. Die Grünen haben bei der Juniorwahl 25 von 60 Direktmandaten im Freistaat gewonnen, die AfD 18 und die CDU gerade einmal fünf. Zwölf Wahlkreise konnten nicht ausgewertet werden, weil dort zu wenige Schulen mitgemacht haben.

Die Daimler-Schüler ließen CDU und Grüne mit je rund 6,5 Prozent gerade so über die Fünf-Prozent-Hürde, die FDP mit rund 8,3 Prozent und die SPD mit 17,6 Prozent. Die Linke bleibt unter zwei. Ein spezieller Bautzen-Effekt? Im Junior-Wahlkreis hätte die Linke die Fünf-Prozent-Hürde geschafft, die Grünen wären mit 16,2 Prozent sogar zweitstärkste Kraft geworden.

Laura, Tim, Benedikt, Paula, Konrad und Maurice stehen nicht für alle Wähler der Schule. Aber ihr Blick auf Parteien bestimmt vielleicht ein wenig die Landtagswahl 2024. Angefixt sind sie, denn alles ist echt bei der Juniorwahl: die Wahlzettel, die Wahlkreiskandidaten und die Wahlurnen. Im Schnelldurchlauf haben die Schüler das Wahlsystem gepaukt, in Zeitungsartikeln etwas über Spitzenkandidaten erfahren und den Wahlomat im Netz ausprobiert.

„Bei der echten Wahl hätte ich bestimmt CDU gewählt"

Die 15-jährige Laura will nichts verraten: „Wahlgeheimnis.“ Sie hat eine Erklärung für das AfD-Ergebnis. „Die meisten, die AfD gewählt haben, sind aus der 9. Klasse, und das sind auch die Schüler, die am Kornmarkt rumhängen“, sagt sie. „Das sind Leute, die sich für etwas Besseres halten, aber in der Schule sitzengeblieben sind.“

Die anderen lachen. Maurice grinst. Der 16-Jährige hat AfD wegen der Sicherheit gewählt. Zu Hause sei Politik kein Thema. Nach der Wahl hat er die Eltern gefragt, wie sie denken, sagt er. „Die AfD zeigt Stärke in ihrem Programm, das finde ich gut.“ Er will mehr Polizei, härtere Strafen, hart durchgreifen gegen Vergewaltigungen, Überfälle, Autodiebstahl, dazu die Asylpolitik ändern und mehr Abschiebungen.

Paula hat Die Partei gewählt. „Schon wegen der Wahlplakate, die sind lustig“, sagt die 15-Jährige und grinst, sagt dann aber: „Bei der echten Wahl hätte ich bestimmt CDU gewählt, damit die AfD nicht an die Macht kommt.“ Zu Hause werde viel über Politik geredet, sagt Paula. Die Eltern hätten vor der Wahl gefragt. „Sie wählen für unsere Zukunft, deshalb wollten sie wissen, was uns wichtig ist.“

Benedikt schweigt zu seiner Wahl, hätte aber bei einer echten Wahl taktisch gewählt, um die AfD zu verhindern, weil sie ihm ein zu rechtes Bild abgebe. „Vielleicht die CDU.“ Er interessiert sich für Umweltthemen. „Mehr Radwege an Landstraßen würden mir gefallen, weil ich im Sommer immer mit dem Rad zur Schule fahre“, sagt der 16-Jährige. Knapp fünf Kilometer ist sein Heimatort Doberschau entfernt. Kleinere Parteien sollten mehr Mitspracherechte haben, findet er.

Wer den Teenagern zuhört, könnte auf die Idee kommen, manch Erwachsener dürfte sich eine Scheibe in Diskussionskultur abschneiden, so kultiviert geht es zu. Man lässt sich ausreden, akzeptiert gegensätzliche Ansichten und lächelt trotzdem.

"Die Politik hat verschissen"

Konrad wollte nicht „ganz rechts“ wählen, sondern liberal-konservativ, also die Freien Wähler. Er höre zu, wenn zu Hause über Politik gesprochen wird, wenn man mit Nachbarn zusammensitze. „Da gebe ich auch meinen Senf dazu“, sagt der 16-Jährige. Er verstehe, warum viele Erwachsene AfD wählten. Er verurteile niemanden dafür. „Persönlich bin ich noch nicht frustriert von Politik, vielleicht ist das in zehn Jahren anders.“ Aber der Kohleausstieg wäre so ein Thema. „Man kann nicht sagen, wir wollen 2030 schon raus und hinterher gucken wir mal“, sagt er. „Viele meiner Trainer arbeiten in dem Bereich.“

Tim, 17, hat SPD gewählt. „Alle geben Wahlversprechen ab, und bei der CDU habe ich nicht wirklich gemerkt, dass die die auch einhalten“, sagt er. Die SPD hätte ihn überzeugt. Parteien müssten der Meinung der Gesellschaft stärker entgegenkommen. Vielleicht hat die CDU auch zu lange regiert, mutmaßt er. Seine Entscheidung sei eher durch den Freundeskreis als durch die Eltern beeinflusst, sagt er.

Dirk Weißhahn hat die Ergebnisse ein bisschen geahnt. „Im Gespräch bekommt man unterschwellig mit, was zu Hause gesprochen wird“, sagt der Lehrer. „Ein paar sind eher Mitläufer, die machen das, was Freundeskreis oder Kumpel erzählen, andere orientieren sich an den Eltern.“ Auch am Frust mancher Eltern. An der Entwicklung der etablierten Parteien zeige sich das.

Die Schüler diskutieren über die Schnittmenge von CDU und AfD (groß), über Umweltschutz, dass Politik was ausprobieren müsse (Minderheitsregierung), dass Elektroautos toll sind, ihr ökologischer Fußabdruck zu groß ist und es keine Tankstellen gibt. Die Frustration mancher Eltern spielt keine Rolle, die Aktionen von Fridays for Future auch nicht. Einige Lehrer hätten die Bewegung kritisch gesehen, sagt Laura. In einem sind alle einig, egal, wen sie gewählt haben. „Alle sagen: Wir wollen alles besser machen, aber besser ist es dann nicht“, sagt Laura. „Mann eh, Politiker haben doch bei unserer Generation verschissen.“ Die Runde lacht.

Grit Jäpel zeigt die Stimmenverteilung bei der Junior-Landtagswahl. Die Lehrerin ist stolz auf ihre Schüler, die offen ihre Meinung sagen.
Grit Jäpel zeigt die Stimmenverteilung bei der Junior-Landtagswahl. Die Lehrerin ist stolz auf ihre Schüler, die offen ihre Meinung sagen. © Matthias Schumann

Dirk Weißhahn ist auch noch Fachberater an der Pestalozzischule in Radeberg. Hier heißt die Wahlleiterin Grit Jäpel. Die Lehrerin hat die Schüler auf die Wahl vorbereitet. „Wir haben die Parteien und ihre Wahlwerbespots analysiert“, sagt die 43-Jährige. Die Bierstadt vor den Toren Dresdens gehört zum Landkreis Bautzen und zum Wahlkreis Bautzen 3. In der Wirklichkeit gewann die AfD das Direktmandat, bei den Schülern im Wahlkreis hätten die Grünen mit beiden Stimmen gesiegt. In der Pestalozzischule, einem altehrwürdigen Backsteinbau im Zentrum, kommen die Grünen dagegen nur auf rund elf Prozent, die CDU auf knapp 13, Tierschützer, Satiriker und Linke sind ebenfalls locker drin, die AfD führt mit 29 Prozent.

Daniel, Richard, Juliane, Janine, Vincent, Julie und Hanna sind nicht der Durchschnitt der Schule, vertreten aber bis auf CDU und SPD die wichtigsten Parteien.

Daniel und Vincent haben Linke gewählt. „Die Linke setzt sich für Freiheit ein, und dass niemand Not leiden muss“, sagt der 15-jährige Daniel. „Das Wichtigste ist für mich, dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter aufgeht und Ausgleich geschaffen wird.“ Sozialpolitik, Umverteilung, Umweltschutz. Vincent, ein Jahr und eine Klassenstufe älter, sagt: „Wir haben in der Familie über Vor- und Nachteile gesprochen. Die Linken stellen sich gegen rechte Parteien und wollen Flüchtlingen weitestgehend helfen, nicht nur hier, auch im Ausland.“ Linksextreme fände er nicht gut, weil Probleme nicht mit Gewalt zu lösen sind. „So wie bei uns sehen vielleicht mal echte Wahlergebnisse aus.“

Hanna ist mit 14 Jahren die Jüngste in der Runde. Sie hat AfD gewählt, weil sie mit dem Flüchtlingsthema nicht klar komme, weil sie selbst schon einen Übergriff erlebt hat, sagt sie. „Ich wurde in Dresden nicht weit vom Bahnhof Mitte angegriffen, belästigt und angegrapscht.“ Hanna guckt ernst, ihre Lehrerin bestärkt sie. „Man muss sich dafür nicht schämen, die AfD ist eine demokratisch zugelassene Partei“, sagt Grit Jäpel. „Das Spektrum geht von links bis rechtskonservativ, das muss eine Demokratie aushalten, das muss ich als Lehrerin aushalten.“ Hanna lächelt. Sie rede zu Hause über Politik, zwei drei Familienmitglieder seien von der AfD überzeugt, der Rest nicht. „Ich finde es gut, dass man gegen Ausländer vorgeht und sagt, wo es langgeht. Sie sollen sich an Kultur und Lebensweise anpassen, integrieren.“ Noch wichtiger wäre aber, dass die Politik etwas für Schulen und kleinere Dörfer tut. „Wir warten wirklich eine Stunde auf den nächsten Bus, wenn wir einen verpassen.“

Klimaschutz hat oft oberste Priorität

Richard hat Die Partei gewählt. Seine Freunde finden die gut. „Sie vertreten die allgemeine Meinungsfreiheit, das ist wichtig, und sie setzt sich ein für das Zurückdrängen von rechtsextremistischem Hass“, sagt der 15-Jährige. Er sei gespalten. „Die AfD ist gefährlich, aber wählbar.“ Er sei weder für noch gegen Ausländer, Übergriffe dürfe es nicht geben. Meinungsfreiheit heiße auch, Flüchtlinge anzuhören, außerdem die Gleichstellung von Mann und Frau.

Die 15-jährige Juliane hat die Freien Wähler gewählt. „Meine Eltern haben mir über die erzählt und ich fand das Programm gut“, sagt sie. „Für mich ist wichtig, dass sie sich sehr für kommunale Dinge und Ziele einsetzen.“ Beim Wahlomat wären die Freien Wähler vorn gewesen. Juliane will von der Politik mehr Klimaschutz. „Da muss mehr passieren. Nicht nur beim Weltklima, sondern auch zwischen den Menschen.“ Die Menschen entfernten sich voneinander, selbst in einer Stadt wie Radeberg, in der es viele Veranstaltungen gebe, bei denen man sich begegnen könne. „Was soll passieren, wenn die Älteren mal nicht mehr da sind?“ Dann sollten nicht alle allein zu Hause mit dem Handy sitzen. Die Politik müsse mehr Treffpunkte bauen, vor allem in kleinen Städten und Gemeinden.

Julie ist eine von 47 Nichtwählerinnen an der Schule. „Es ist mir schwergefallen, mir eine Meinung zu bilden“, sagt die 15-Jährige. Die Mutter rede nicht gern über Politik, die Oma neige eher zur AfD und die Freunde sagten, die Linke wäre die beste Partei. Ein Dilemma. Bei der nächsten Wahl will sie sich besser informieren. „Wir sind doch die Zukunft.“ Julie will mehr Klimaschutz, mehr Fußwege an Landstraßen, damit Schüler nicht auf der gefährlichen Fahrbahn laufen müssen, mehr Busse. „Wenn die Braunkohle in der Lausitz alle ist, verlieren die Menschen auch ihren Arbeitsplatz“, sagt sie. „Dann doch lieber gleich die Welt retten.“

Janine hat die Grünen gewählt. „Meine Schwestern erzählen mir viel von denen und sie waren auch bei Fridays for Future“, sagt die 15-Jährige. „Umwelt und Tierschutz spielen für uns eine große Rolle.“ Klimaschutz hat oberste Priorität. Wer heute in der Kohle arbeite, könnte auch im Bereich erneuerbare Energien arbeiten, sagt sie. „Wenn man sich da mal genauer informiert und nicht immer alles bloß schlechtredet, weil man von seinen Prinzipien überzeugt ist und konservativ ist, würde man auch sehen, dass das überhaupt kein Problem ist“, sagt sie. „Wir sind mittlerweile an einem Punkt, an dem man schneller handeln muss.“ Sie habe kein Verständnis für Klimawandel-Leugner wie die AfD.

Grit Jäpel grinst. Sie ist stolz auf ihre Schüler, die offen ihre Meinung sagen. Die Fridays-for-Future-Bewegung sieht die Lehrerin positiv. „Ich befürworte das, nicht, um die Schule zu schwänzen, sondern um diese Meinung zu vertreten und sich politisch zu engagieren“, sagt Jäpel. Es sei eine einfache Frage: Meinungsfreiheit gegen Schulpflicht – was ist mehr wert? „Kein Grundrecht kann gegen ein anderes Grundrecht aufgewogen werden.“ Politisch sein, sich eine Meinung zutrauen und den Mut haben, sie zu äußern. Vielleicht ist das der Langzeit-Gewinn der fiktiven Landtagswahl. Für die Demokratie der Zukunft.

Lehrerin Grit Jäpel (o.) von der Radeberger Pestalozzischule  hat ihre Schüler Julie, Juliane, Daniel, Richard und Vincent auf die Juniorwahl vorbereitet.
Lehrerin Grit Jäpel (o.) von der Radeberger Pestalozzischule  hat ihre Schüler Julie, Juliane, Daniel, Richard und Vincent auf die Juniorwahl vorbereitet. © Matthias Schumann