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Das Wunder von Bautzen

Zum Ende der DDR schien die Altstadt hoffnungslos verloren. Ihre Rettung galt als Jahrhundertaufgabe. Doch dann kam alles ganz anders.

Von Miriam Schönbach
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Karsten Herrmann steht in der Bautzener Schloßstraße. Dass sich heute hier Kneipe an Kneipe reiht und das Leben pulsiert, ist auch ein Verdienst des Oberfranken, der 1991 eine Ruine gekauft und saniert hat.
Karsten Herrmann steht in der Bautzener Schloßstraße. Dass sich heute hier Kneipe an Kneipe reiht und das Leben pulsiert, ist auch ein Verdienst des Oberfranken, der 1991 eine Ruine gekauft und saniert hat. © Steffen Unger

Bautzen. Selbst bei Regen leuchtet die Schloßstraße noch in ihren wunderbaren Farben. Ein Hauch Italien liegt in der Luft. „Ich kann mich noch gut erinnern, als ich hier zum ersten Mal stand. Desaströs. Es war eine Altstadt, wo sich eine Ruine neben der anderen befand“, sagt er. Seine Gedanken führen ihn zurück ins Jahr 1991. Damals kommt der gebürtige Oberfranke in die Oberlausitz. Er soll das rückübereignete volkseigene Schleifscheiben-Werk in Crosta retten. Doch schon bald gehört der Unternehmer zu unzähligen Bauherren, die der Bautzener Altstadt ihren Charme zurückgeben.

Karsten Herrmann geht zur Schloßstraße Nr. 9. Er schließt die Tür auf, drinnen wartet eine Gaststätteneinrichtung auf einen neuen Pächter. Der 56-Jährige geht durch in Richtung Hinterhof. „Ein Freund hatte ursprünglich dieses Haus gekauft. Ich habe ihn damals für den Mut bewundert, eine Ruine zu kaufen und wieder fit zu machen. Meines Wissens wohnte nur noch ein Mensch im Nebenhaus auf dieser Straße – und das war ein Querkopf“, erinnert sich der Bautzener. Bereits Mitte der 1980er-Jahre gleicht das Bautzener Altstadtzentrum einer Geisterstadt mit eingestürzten Häusern und toten Fenstern. Die Bewohner des einst prunkvollen Stadtgebiets verlassen ihre Wohnungen lieber Richtung Gesundbrunnen.

Im Bautzener Neubaugebiet kommt das warme Wasser aus der Wand, Wasserklosett inklusive. Die Heizung funktioniert mit einem Dreh. In der Altstadt dagegen sorgen Kohleöfen für die nötige Wärme, die meisten Häuser haben noch im Wendejahr 1989 ein Plumpsklo eine halbe Treppe tiefer. Es mieft in den Fluren nach Feuchtigkeit und Schimmel. Fensterscheiben sind kaputt, die Schindeln rutschen von den Dächern, Dachstühle sacken zusammen. Eine Statistik aus diesen Tagen zeigt die Dimensionen: Ein Drittel der Hauptgebäude stehen gänzlich leer, nahezu die Hälfte der Wohnungen ist ungenutzt – und bis auf wenige Ausnahmen haben alle Häuser schwere Schäden, Bau- und Ausstattungsmängel. Die Zahlen finden sich in einem Hefter bei Bautzens langjähriger Denkmalverantwortlichen Christa Kämpfe. Sie erinnert sich an die gebohrten Sprenglöcher am Burglehn und in der Hohengasse. Der heutige Mönchshof sollte unter anderem für den Aufbau einer sozialistischen Musterstadt verschwinden. Die Pläne lagen in den Schubladen.

Dachziegel aus Heidelberg

Doch der Herbst 1989 bringt nach Jahren der Ohnmacht und Resignation Hoffnung für das Stadtviertel. Schwarzweiß-Fotografien zeigen Demonstrationen durch die engen Gassen mit einem Banner vorneweg: „Rettet unsere Altstadt.“ Unterschiedliche Gruppen kämpfen gemeinsam um den Erhalt des Bautzener Architekturerbes. Noch vor der ersten, freien Kommunalwahl im Mai 1990 verabschiedet der Stadtrat einen Beschluss zur Sanierung der Altstadt.

Eine der ersten „Reanimierungsmaßnahme“ für die Altstadt, wie es Karsten Herrmann nennt, wird durch Bautzens Partnerstadt Heidelberg initiiert. Die Neckar-Städter bringen bereits im Mai 1990 8 000 Dachziegel, 1 000 Klinker sowie Dachbalken und Dachpappe auf den Weg an die Spree, um Häuser und Dächer in der Altstadt zu sichern. Sechs Monate später wird ein Vertrag für das Sanierungsobjekt Heringstraße 4 zwischen beiden Kommunen unterschrieben. Im Mai 1992 wird das fertigsanierte Gebäude an die Stadt übergeben und heißt seitdem „Heidelberghaus“.

Der knappe Zeitrahmen überrascht nach fast 30 Jahren immer noch. Schließlich müssen vor der Sanierung Eigentumsverhältnisse geklärt werden, zudem muss die Altstadt unter Tage erschlossen werden. Trinkwasser- und Gasleitungen, Schmutz- und Regenwasserkanäle und kilometerweise Kabel bohren sich in den Granit. In der Heringstraße wurde mit diesen Maßnahmen noch vor 1989 begonnen, aus diesem Grund kann das Heidelberghaus schnell gerettet werden. Für sein Haus gegenüber, die Heringstraße 5, unterschreibt Lothar Lange im November 1991 die Sanierungsvereinbarung 001.

1994 öffnet das Lokal

Bald stehen an vielen Häusern der Altstadt – auch in der Schloßstraße – Gerüste. „Als mein Bekannter feststellt, dass er die Sanierung nicht mehr stemmen kann, haben wir 1993 das Haus mitten in der Rekonstruktion übernommen“, sagt Karsten Herrmann. Er und sein Vater bringen eine Idee mit. Bereits 1992 haben sie die Geschäfte der Bautzener Brauerei übernommen und wollen nach der Schließung der Brauerei an der Neusalzaer Straße das Bierbrauen zurück an die Spree holen. In dieser Zeit wird der Bautzener Gerstensaft zum Beispiel in der Oberpfalz abgefüllt.

So liegt es nah, das Gebäude zu retten und Bautzener Bier zu verkaufen. Im Sommer 1994 eröffnet die Gaststätte als erstes Lokal auf der Schloßstraße. „Die Bautzener haben unser Haus gestürmt, ganz in dem Bewusstsein: Hier ist nicht nur die Fassade wieder gut, sondern das Haus zum Leben erweckt worden“, sagt der Unternehmer. Er wohnt die erste Zeit selbst im Haus, spürt jeden Morgen noch vor dem Aufstehen, wie Bewegung in die alten Gassen kommt. Baulärm ist der neue Herzschlag der Altstadt. Der Neu-Bautzener erlebt, wie durch die alten Gassen neuer Optimismus strömt.

Diesen Anblick bot 1990 die Bautzener Schloßstraße. Für manches der Häuser schien nur noch der Abriss infrage zu kommen. 
Diesen Anblick bot 1990 die Bautzener Schloßstraße. Für manches der Häuser schien nur noch der Abriss infrage zu kommen.  © Foto: privat/ Reinhard Hartmann