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Der Choleriker auf der Bank von RB Leipzig

Er ist der Trainer-Jungstar mit großer Persönlichkeit. So schafft Julian Nagelsmann selbst in Leipzig echte Kunststücke.

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Cool sei er und Humor, sagen seine Spieler in Leipzig, hat Julian Nagelsmann auch. Aber der 32-Jährige kann auch anders.
Cool sei er und Humor, sagen seine Spieler in Leipzig, hat Julian Nagelsmann auch. Aber der 32-Jährige kann auch anders. © Jan Woitas/dpa

Vom Temperament her ist Julian Nagelsmann ein Choleriker. Jeden Tag hat der Trainer von RB Leipzig seine fünf Minuten, in denen er aus der Haut fährt – und dabei auch laut wird. Vor dem Auftakt der Rückrunde der Fußball-Bundesliga gegen Union Berlin deutete Nagelsmann sein aufbrausendes Temperament wieder mal an. Als er zum x-ten Mal nach den Titel-Ambitionen gefragt wurde, die die Herbstmeisterschaft mit sich brächten, war es soweit: „Der Herbstmeister-Titel ist mir völlig scheißegal – ganz ehrlich“, sagte der 32-Jährige und betonte: „Meister wird der, der die meisten Punkte holt, und nicht der, der am meisten drüber spricht.“

Den Titeldruck zu bändigen und gleichzeitig seine hochgesteckten Ziele zu verfolgen, ist die große Herausforderung, vor der Nagelsmann in den nächsten vier Monaten steht. Doch bislang nimmt der jüngste Trainer der Bundesliga auch diese Hürde souverän, indem er sich und sein Team weiter antreibt. „Um Meister zu werden, muss unsere Performance besser sein als die 37 Punkte aus der Hinrunde“, forderte er.

Dafür ließ er in der Winterpause etwa eine vierte, neue Grundordnung einüben. Variabilität, Tempo, Ballkontrolle – darauf kommt es Nagelsmann inhaltlich an. Mit seinem ganz eigenem Mix aus Ballbesitz- und Gegenpressing-Fußball will er Leipzig zum dauerhaften Spitzenteam formen. Emotional soll sein Team die Eigenschaften verkörpern, die er als Trainer vorlebt: Ehrgeiz, Mut, Dominanz, Selbstbewusstsein, höchste Bereitschaft. Nagelsmann durchdringt das Spiel, verbindet Lockerheit und Autorität in optimalem Verhältnis und hat den meisten Spielern zu deutlichen Formverbesserungen verholfen.

In der Mannschaft kommt der Stil hervorragend an. „Er ist sehr ambitioniert“, sagt Nationalspieler Marcel Halstenberg: „Das kann man in jeder Ansprache und jedem Spiel spüren. Er coacht jeden Spieler auf und neben dem Platz, ist relaxed, cool und hat Humor. Aber wenn es darum geht, 90 Minuten alles zu geben, dann ist er sehr gerade heraus. Das schätze ich an ihm.“ Auch Abwehrchef Dayot Upamecano vertraut dem wohl größten Trainertalent des Weltfußballs blind. „Entscheidend ist, ob wir das, was der Trainer uns mitgibt, umsetzen“, sagt der Franzose. „Wenn wir das schaffen, sind wir vorn mit dabei.“

© Jan Woitas/dpa

Zu Nagelsmanns Qualitäten zählt auch, dass er intern knallhart kritisiert und Spieler nach schlechten Leistungen souverän Konsequenzen spüren lässt. Anflügen von Zufriedenheit begegnet der einstige Abwehrspieler von 1860 Münchens zweiter Mannschaft vehement. Während etwa die Manager des Vereins nach dem letzten Gruppenspiel in der Champions League im Lyoner Stadiontunnel den Meilenstein priesen, redete sich der Trainer-Jungstar eine Etage weiter oben in Rage.

„Es geht jetzt darum, Entscheidungen zu treffen: Soll es weiter in Ordnung sein? Wollen wir mal schauen, wie weit wir in Champions League und Pokal kommen und wie lange wir in der Bundesliga oben mitspielen? Oder soll es besser als in Ordnung sein?“, fragte er und rief: „Wir dürfen nicht anfangen zufrieden zu sein mit dem, was wir gerade erreicht haben.“

Mit mindestens 24 Spielen plane Nagelsmann in der Rückrunde, verriet er vor dem Spiel gegen Union. Das setzt das Erreichen des Viertelfinales der Champions League voraus. Und so groß hat noch kein Trainer bei RB gedacht. Bisher war es stets andersherum, der Klub hatte Druck auf die Trainer gemacht.

Nagelsmann dreht den Spieß nun einfach um und treibt den Verein an. Ihm scheint dabei sogar das Kunststück zu gelingen, dem fortschrittlichen „Super-Kapitalisten“ unter den Fußballklubs, wie der Sportphilosoph Gunter Gebauer den Red-Bull-Verein bezeichnet, noch mehr Zielstrebigkeit, Selbstvertrauen und schließlich Titelreife zu verleihen. Fachlich wirke Nagelsmann bereits „wie ein alter Fuchs“, lobte RB-Boss Mintzlaff jüngst. Vielsagend schob er hinterher: „Die Mannschaft hat sich auf so einen Trainer gefreut.“

Sein Vater nimmt sich das Leben

Vorgänger Ralf Rangnick steht zwar weiterhin als Ratgeber für die Red-Bull-Klubs zur Verfügung. Aber man hat nicht den Eindruck, als suche Nagelsmann den Rat. „Wäre er noch Sportdirektor, hätte es sicher Reibereien gegeben. Davor wollte er sich und mich schützen, deshalb war es eine intelligente Entscheidung, sich ein Stück weit aus dem Alltagsgeschäft rauszunehmen“, verriet Nagelsmann bei Sky. „Ich bin ein Alpha-Tier, er ist es auch.“ Nun gibt er allein den Ton an.

Das hat der zwischen München und Augsburg in Landsberg am Lech geborene Bayer früh gelernt – auch wegen eines Schicksalsschlags. Als Nagelsmann Anfang 20 war, nahm sich sein Vater das Leben. „Man wird früh mit Fragen konfrontiert, die andere im selben Alter nicht beschäftigen“, gab er jüngst im Focus preis. „Ganz praktische Lebensfragen wie Haus verkaufen, Versicherungen auflösen, Beerdigung organisieren. Man lernt, Verantwortung zu übernehmen und zu führen. Sich selbst und andere – meine Mama zum Beispiel, der ich eine Stütze sein wollte, und meine Schwester, die mehr als ich unter dem Tod meines Vaters gelitten hat. Man kann daran zerbrechen oder wachsen.“ Julian Nagelsmann ist letzteres gelungen.

(von Ullrich Kroemer)