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Der Unerschütterliche

Für die SPD sieht es vor der Landtagswahl düster aus. Martin Dulig, der Spitzenkandidat, wittert trotzdem seine Chance.

Von Karin Schlottmann
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SPD-Spitzenkandidat Martin Dulig hat – wie hier in Meißen – in Wahlkampfzeiten jeweils einen Tag als Praktikant in verschieden Berufen und Firmen gearbeitet.
SPD-Spitzenkandidat Martin Dulig hat – wie hier in Meißen – in Wahlkampfzeiten jeweils einen Tag als Praktikant in verschieden Berufen und Firmen gearbeitet. © Ronald Bonß

An einem heißen Dienstagnachmittag mitten in den Sommerferien hält sich in der Einkaufsmeile Prager Straße in Dresden das Interesse an Politik in Grenzen. An diesem Tag sind es nur noch gut fünf Wochen bis zur Landtagswahl. Spitzenkandidaten dürfen jetzt nicht zimperlich sein. Und so steigt Martin Dulig auf ein kleines rotes Podest, nimmt ein Mikro in die Hand, zieht am linken Ärmel seines weißen Hemdes und legt los. „Liebe Dresdnerinnen und Dresdner, liebe Gäste, mein Name ist Martin Dulig, ich bin Spitzenkandidat der SPD zur anstehenden Landtagswahl“ 

Fünf Minuten spricht der Wirtschaftsminister und Wahlkämpfer über Tariflöhne, öffentlichen Nahverkehr und Grundrente. Passanten eilen mit gesenktem Blick vorbei. Eine Frau mit Kindern hat sich Werbeartikel vom Stehtisch geholt, ein älteres Paar bleibt im Schatten stehen. Alle anderen zeigen ihr Desinteresse so deutlich es eben geht.

Reden, obwohl kaum jemand zuhört, das wirkt skurril. „Ganz schön mutig“, lobt ein Mitglied des Teams die Auftritte. Wahlkämpfer Dulig glaubt an seine Idee des „Speaker's Corner-Formats“. Wann immer es in den engmaschigen Terminplan passt, redet er exakt fünf Minuten auf Plätzen in Dresden, Leipzig oder Coswig. Eine der Botschaften, so die Theorie, wird beim Zufalls-Publikum schon hängenbleiben.

Mit seinem eigenen Bekanntheitsgrad in Sachsen ist Dulig zufrieden. Bei einer Umfrage im Juni lagen seine Sympathiewerte nur knapp hinter denen des Ministerpräsidenten Michael Kretschmer. Die Frage ist nur: Wie kann er diese Werte in Wählerstimmen für die SPD ummünzen? Es ist ein Kraftakt, sagt er. Die Kampagne konzentriert sich stark auf ihn. Und weil Fünf-Minuten-Reden und Plakate es allein nicht bringen, hat er sich das Format „Dein Kollege Dulig“ ausgedacht. 

Als Wirtschafts- und Arbeitsminister arbeitete er unter der Überschrift „Deine Arbeit, meine Arbeit“ jeweils einen Tag als Bäcker, Pfleger, Verkäufer, Monteur, Straßenwärter, Textilpfleger oder Kellner. Im Wahlkampf haben sich die Firmen selbst um den Einsatz des Praktikanten Dulig beworben. Zu dem Termin kommen Fotografen und TV-Teams, und deshalb ist die Aktion auch für ihr Unternehmen gute Werbung, sagt die Marketingleiterin von Kanal-Türpe in Leipzig.

Martin Dulig und seine Frau Susann beim Landesparteitag der SPD Sachsen im Jahr 2018. Damals wurde Dulig mit knapp 84 Prozent der Stimmen erneut zum SPD-Landesvorsitzenden gewählt.
Martin Dulig und seine Frau Susann beim Landesparteitag der SPD Sachsen im Jahr 2018. Damals wurde Dulig mit knapp 84 Prozent der Stimmen erneut zum SPD-Landesvorsitzenden gewählt. © Monika Skolimowska/dpa

Dulig muss an diesem Tag auf dem Gelände der Universität 20 Meter in einen Gulli hinuntersteigen und mit einer an einem Seil befestigten Kamera Schäden im Schacht aufnehmen. Dann wird repariert. Der Einsatzleiter steht oben und gibt Anweisungen. Man ist, logisch, gleich per Du. Drei bis vier Stunden dauert der Job. „Kollegen“, mit denen er hier ins Gespräch kommen könnte, bietet dieses Praktikum eher nicht. Die Firma hat nur zwei Azubis mitgeschickt, die heute ihren ersten Arbeitstag haben und die Aktion beobachten. Noch am gleichen Tag stehen die Fotos auf der Webseite des Unternehmens. „Vielen Dank für die tatkräftige Unterstützung“, schreibt die Marketing-Chefin.

Die Lage der sächsischen SPD ist vor dieser Wahl so schwierig wie schon lange nicht mehr. Angesichts der schlechten Umfrageergebnisse hat sich in der Partei Enttäuschung breitgemacht. Das schlechte Kommunalwahlergebnis steckt einigen noch in den Knochen. Dulig sagt, die Stimmung bewege sich zwischen Resignation und Trotz. Er selbst will von Frustration nichts wissen. Wahlkampf „mit den Mundwinkeln nach oben“ hat er seinen Leuten verordnet. Dass er selbst im Mittelpunkt des Wahlkampfes steht und das Ergebnis vor allem von ihm abhängt, empfindet Dulig als Motivation und Bürde zugleich. „Ich will beweisen, dass ich es kann. Natürlich möchte ich nicht das schlechteste Ergebnis der sächsischen SPD einfahren. Das habe ich auch nicht verdient.“ Auf dem Landesparteitag im Juni appelliert Dulig an die Basis, jeden Tag und jede Stunde zu kämpfen, fordert Leidenschaft und Solidarität ein. „Wer nicht an uns glaubt, soll zu Hause bleiben“.

2014 wählten 12,4 Prozent der Sachsen die SPD, zwei Prozentpunkte mehr als 2009. Mit reichlich Selbstbewusstsein unterschrieb Dulig damals den Koalitionsvertrag mit der CDU. Seine Partei war überzeugt, es würde von nun an kontinuierlich bergauf gehen. Wahlergebnisse von um die zehn Prozent sollten endgültig der Vergangenheit angehören. Schritt für Schritt werde sich die kleine Sachsen-SPD als Regierungspartei etablieren und, so der kühne Traum, irgendwann einmal sogar in die Staatskanzlei einziehen.

SPD-Spitzenkandidat Dulig unterhält sich während seiner diesjährigen Küchentisch-Tour mit Bürgern.
SPD-Spitzenkandidat Dulig unterhält sich während seiner diesjährigen Küchentisch-Tour mit Bürgern. © Hendrik Schmidt/dpa

Und tatsächlich lief es aus Sicht der SPD gar nicht schlecht. Sie stoppte den harten Sparkurs der Vorgängerregierung und setzte den Ausbau des öffentlichen Dienstes mit den Schwerpunkten Polizei, Schulen und Kitas durch. Erstmals regelt ein Landesgesetz die Integration von Flüchtlingen in Sachsen. Zugleich verlor die einst übermächtige CDU in der Bevölkerung deutlich an Zustimmung. Nach der Bundestagswahl 2017 zog sich Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) ratlos vom Amt zurück, sein Nachfolger Michael Kretschmer sortierte seine Ministerriege und die politische Agenda neu.

Und trotzdem: Von der Schwäche der CDU kann die SPD nicht profitieren. Im Gegenteil. In den Umfragen der vergangenen Monate geht es immer weiter in den Keller. Sieben Prozent sind der bisherige Tiefstand. Dulig sagt, die politische Entwicklung der letzten Jahre habe die Milieus der Parteien durcheinandergewirbelt. Viele Wähler sprächen sowohl der CDU als auch der SPD ihre jeweiligen Kernkompetenzen ab. Die Große Koalition in Berlin, die er anfangs befürwortet hatte, ist ausgezehrt, gibt er zu. Wenn die SPD am Abend des 1. September wieder nur zehn Prozent bekäme, wäre dies mit Blick auf den bundesweiten Zustand seiner Partei sogar ein „großer Erfolg“. Es ist eine deprimierende, aber wohl realistische Ansage.

Sollte er selbst verzweifelt sein, versteckt er es gut. Was ihn ärgert, ist ein, wie er auf einer Veranstaltung sagt, primitives Verständnis vieler Menschen von Demokratie, vergleichbar mit einem Pizzadienst: Wir Bürger bestellen, ihr Politiker liefert. Und zwar subito. Viele Menschen seien nur zufrieden, wenn ihre Wünsche sofort und zu hundert Prozent erfüllt werden.

Vize-Ministerpräsident Martin Dulig (SPD - l), und der damals designierte sächsische Ministerpräsident und Landesvorsitzende der CDU Sachsen, Michael Kretschmer, sitzen am 11.12.2017 im Sächsischen Landtag zusammen. 
Vize-Ministerpräsident Martin Dulig (SPD - l), und der damals designierte sächsische Ministerpräsident und Landesvorsitzende der CDU Sachsen, Michael Kretschmer, sitzen am 11.12.2017 im Sächsischen Landtag zusammen.  © Sebastian Kahnert/dpa

Dem Abwärtsstrudel, in den die Bundes-SPD nach der Europa- und Kommunalwahl im Mai geraten ist, will er vor allem eines entgegensetzen: Zuversicht. Zuversicht ist eines der Lieblingswörter Duligs. Auch „Respekt“ und „Anstand“ und „Mut“ gehören zu seinem Repertoire. Pathetisch anmutende Sätze wie „Geben wir Sachsen das Lächeln zurück“ oder das Wahlkampfmotto „Es ist Dein Land“ flicht er wie selbstverständlich in seine Reden. „Die Spaltung des Landes kann man in den Gesichtern der Menschen sehen“, ist auch so ein Dulig-Satz.

Dulig stammt aus einem christlich geprägten Elternhaus. "Eigentlich wollte ich Architekt werden. Da ich aber nicht in der FDJ war und mich auch nicht für die Volksarmee verpflichten wollte, hieß das in der Regel: kein Abitur, kein Studium. Und so sollte ich - wie meine Brüder - eine Handwerksausbildung machen und Steinmetz werden", heißt es in der Biografie auf seiner Internetseite. "Erst durch den Einsatz meines Lehrers durfte ich eine Berufsausbildung mit Abitur zum Maurer beginnen."

Später arbeitete er als Jugendbildungsreferent bei der SPD und beim Deutschen Gewerkschaftsbund und studierte Erziehungswissenschaft an der TU Dresden. Er führt den Landesverband zum zweiten Mal als Spitzenkandidat in eine Landtagswahl. Seit einigen Monaten wird manchmal auch sein Name genannt, wenn die SPD in Berlin einen Job zu vergeben hat. Natürlich gefällt ihm das. Das Dementi kommt trotzdem. Er habe sich für Sachsen entschieden. „Ich trete diesmal nicht an“, sagte er dem Magazin Cicero. Aber wer weiß, was die Zukunft bringt.

Dulig ist jetzt 45 Jahre alt und hat die meiste Zeit in der Politik verbracht. Mit 18 trat er in die SPD ein. Sieben Jahre später wählten ihn die Jusos zu ihrem Landesvorsitzenden. 2004 kam er in den Landtag, 2007 wurde er SPD-Fraktionsvorsitzender – der jüngste deutschlandweit. Zwei Jahre später löste er Thomas Jurk als Landesvorsitzenden ab. „Bei mir geht alles immer etwas schneller“, formulierte er damals lässig. Seit diesem Generationenwechsel hat die SPD einige Mitglieder, aber nicht sonderlich viele Wählerstimmen hinzugewonnen. Aus dem einst zerstrittenen und intriganten Klüngel hat er eine professionell agierende Truppe geformt. Anders als früher hat niemand in Partei oder Fraktion in den vergangenen Jahren Koalitionsbeschlüsse hintertrieben oder offen infrage gestellt.

Der neugewählte sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich (l./CDU) erhält am 28.05.2008 im Glückwünsche vom SPD-Fraktionsvorsitzenden Martin Dulig (vorn r.) und von Wirtschaftsminister Thomas Jurk (M./SPD). 
Der neugewählte sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich (l./CDU) erhält am 28.05.2008 im Glückwünsche vom SPD-Fraktionsvorsitzenden Martin Dulig (vorn r.) und von Wirtschaftsminister Thomas Jurk (M./SPD).  © Matthias Hiekel dpa

Dulig ist nicht nur Parteichef, sondern seit fünf Jahren Wirtschafts- und Verkehrsminister. Das Haus, das fast schon traditionell vom kleineren Koalitionspartner geleitet wird, ist ein großes Ministerium mit vielen Mitarbeitern und Förderprogrammen. Tatsächlich bietet es aber weniger Einfluss, als die meisten Bürger glauben. Zu viel Bürokratie, kein Internet, zu wenig Arbeitskräfte, lauten die Klagen von Unternehmern und Verbänden. Doch für viele Probleme ist die Landesregierung gar nicht zuständig, oder die Lösung dauert länger, als die Betroffenen warten wollen. Qualifizierte Mitarbeiter herbeizaubern könne er nicht, sagt Dulig. Und der Bau von Fahrradwegen, Bahnstrecken und Straßen zieht sich dank Bürgerbeteiligung und Naturschutz inzwischen über Jahre hin.

Der erfahrene Politiker Dulig weiß, wie PR funktioniert, und seine Mitarbeiter wenden viel Zeit darauf, die Ministertermine auf Auslandsreisen oder bei sächsischen Unternehmen in den sozialen Netzwerken zu vermarkten. Seine jugendliche Attitüde hat der einstige Juso-Chef in das Amt mitgenommen. Das stößt manchem sauer auf. Er selbst sagt, er sei ein ernsthafter, aber gelassener Familienmensch. „Ich bin mit 16 Jahren das erste Mal Vater geworden. Da bleibt einem gar nichts anderes übrig, als gelassen zu sein.“

Die Älteste seiner sechs Kinder ist 29 Jahre alt, und arbeitet als Lehrerin. Die Jüngste ist 14 und demonstriert freitags für den Klimaschutz. Er möchte zu Hause eigentlich nicht auch noch ständig über Politik reden müssen, sagt er auf einer Diskussionsveranstaltung mit Ministerpräsident Michael Kretschmer im Haus an der Kreuzkirche in Dresden. Aber in Wahrheit, das ist klar, gefällt es ihm, wenn sich seine Kinder engagieren.

SPD-Fraktionschef Dulig, spricht am 20.12.2007 während einer Sondersitzung des Landtages zum Verkauf der angeschlagenen sächsischen Landesbank nach Baden-Württemberg.
SPD-Fraktionschef Dulig, spricht am 20.12.2007 während einer Sondersitzung des Landtages zum Verkauf der angeschlagenen sächsischen Landesbank nach Baden-Württemberg. © Ralf Hirschberger dpa

Wer ihn und Kretschmer wie an dem Abend im Haus der Kreuzkirche erlebt, gewinnt den Eindruck, beide könnten problemlos die nächsten fünf Jahre miteinander regieren. Die Chemie stimmt, und konträre Standpunkte wie bei der Gemeinschaftsschule stellen keine unüberwindbare Hürde dar. „Es hätte keinen Sinn, wenn wir jetzt aufeinander einhacken würden“, sagt Dulig. Kretschmers größter Kontrahent ist ohnehin nicht die SPD. Und nach einer rein schwarz-roten Koalition sieht es eh nicht aus. Eher läuft es auf ein Dreier- oder Viererbündnis hinaus.

Dulig bleibt die Hoffnung, dass trotz der schwachen Performance eine Regierungsbildung nicht ohne seine Partei möglich sein wird. Als der Moderator Kretschmer bittet, Dulig zu beschreiben, findet der CDU-Chef herzliche Worte. „Er ist ein durch und durch geradliniger Mensch.“ Konflikte hätten sie gelöst und die aufgeheizte Stimmung in Chemnitz nach den Ausschreitungen gemeinsam durchgestanden. Dulig, sagt Kretschmer nüchtern, habe dem Land gutgetan.

In einer früheren Version des Textes hieß es, Dulig habe in der DDR nicht studieren dürfen.  Dies wurde in der aktuellen Fassung konkretisiert.