SZ + Dresden
Merken

Dresdens schwerster Straßenbahnunfall

Wie die Haarnadelkurve am Westendring Straßenbahnen zweimal zum Verhängnis wurde.

Von Ralf Hübner
 4 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Bei Winterwetter zu schnell durch die Kurve gefahren. Bei dem Straßenbahnunfall 1959 am Westendring in Plauen starben elf Menschen. Die Straßenbahn fährt jetzt im weiten Bogen auf einer anderen Strecke.
Bei Winterwetter zu schnell durch die Kurve gefahren. Bei dem Straßenbahnunfall 1959 am Westendring in Plauen starben elf Menschen. Die Straßenbahn fährt jetzt im weiten Bogen auf einer anderen Strecke. © privat

Es ist der wohl folgenschwerste Unfall in der Geschichte der Dresdner Straßenbahn. Elf Menschen kamen ums Leben, als vor 60 Jahren auf abschüssiger Strecke am Westendring in Dresden-Plauen eine Fahrerin der Linie 11 die Kontrolle über ihre Bahn verlor. 

Die voll besetzten Hechtwagen rasten in den Morgenstunden des 9. Dezember 1959 durch die dortige enge Haarnadelkurve, der Anhänger sprang aus den Gleisen, stürzte um und knallte gegen Baum und Betonmast. Eine halbe Stunde später trafen die Rettungsmannschaften ein. Neun Fahrgäste starben noch an der Unfallstelle, zwei weitere auf dem Weg ins Friedrichstädter Krankenhaus. Mehr als 50 Menschen wurden verletzt. Der Sachschaden wurde mit etwa einer halben Million Mark angegeben.

Gegen 4.55 Uhr hatte die 25-jährige Bettina W., seit zwei Jahren Hechtwagenfahrerin, in Bühlau ihren Dienst angetreten. Es war ein kalter, dunkler Morgen. Sprühregen nahm der Fahrerin die Sicht. Die Gleise waren stellenweise vereist. Die Bahn hatte Coschütz pünktlich erreicht, Bettina W. machte sich auf die Rückfahrt. Nach der Haltestelle „Kotteweg“ wurde der Zug plötzlich immer schneller. „Wenn die so weiterfährt, landen wir an der Friedhofsmauer“, soll einer der Fahrgäste, ein 59-jähriger Krankenpfleger, noch gemurmelt haben. Etwa zur gleichen Zeit betätigte die Frau im Führerstand des Triebwagens 1711 verzweifelt immer wieder die Kurzschlussbremse, bei der die Bahn mit Hilfe des Motors abgebremst wird. Vergeblich. Offensichtlich in Panik geraten, kam sie zu spät auf den Gedanken, die normale Schienenbremse zu treten sowie Handbremse und Sandstreuer zu betätigen, wie die spätere Gerichtsverhandlung ergab. Das Unglück war nicht mehr zu aufzuhalten. Es war 6.21 Uhr, als es krachte.

© privat

Der Verkehrsstrafsenat des Bezirksgerichtes Dresden verurteilte die nicht vorbestrafte Mutter zweier Kinder bei der Verhandlung etwa drei Monate später zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Sie sei „normal“ gefahren, hatte die Frau gesagt. Und genau das sei angesichts der schlechten Witterung zu schnell gewesen, urteilten die Richter. Zudem habe sie ungewöhnlich lange gebraucht, um zu reagieren, als sie sicher unter Schock bemerkte, das die Kurzschlussbremse versagte. Wenn sie sich nämlich in einer Spanne von etwa 15 Sekunden auf die anderen Bremsmöglichkeiten besonnen hätte, sei das Unglück noch zu vermeiden gewesen.

Vermutlich hatte die Frau das Unheil sogar selbst heraufbeschworen, als sie an der Haltestelle „Kotteweg“ die Scheibe wischte, um klare Sicht zu bekommen. Dabei war sie wahrscheinlich unbemerkt an den Rückstellknopf gekommen, so dass die elektrische Bremse nicht mehr funktionierte. Deshalb wurde der Knopf in den Bahnen später mit einer Abdeckung versehen.

An gleicher Stelle hatte sich schon Ende Oktober 1927, kurz nachdem die Strecke fertiggestellt worden war, ein ganz ähnliches Straßenbahnunglück ereignet. Auch damals war ein Anhänger umgekippt, 18 Fahrgäste waren verletzt worden. Acht von ihnen hatten den Berichten zufolge ernstere Verwundungen davongetragen wie Kopf- sowie Arm- und Beinverletzungen. Einem 40-jährigen Schmied musste ein Arm amputiert werden. Ein großes Glück im Unglück sei es gewesen, dass der Anhänger gegen zwei der dort stehenden Eisenbetonmasten der elektrischen Oberleitung gefahren sei, hieß es in einem Zeitungsbericht. Sonst wäre er die Böschung herabgestürzt. Damals soll der knappe Fahrplan den Fahrer zur Eile verleitet haben.

Der Unfall von 1959 führte in der damaligen „Sächsischen Zeitung“ zu einer aus heutiger Sicht bizarr anmutende Debatte. Ein Leser aus Zittau schrieb, dass seiner Meinung nach bei dem Urteil über die Straßenbahnfahrerin der psychologische Aspekt zu kurz gekommen sei. Frauen hätten nicht die Veranlagung zum logischen Denken und würden in solchen Situationen immer versagen, schrieb der Mann. Das sei also keine Pflichtverletzung, sondern eben „Frauenart“.

Der Redakteur reagierte empört. Die Frauen der Sowjetunion hätten etwa bei der Entwicklung der Kerntechnik und den Vorbereitungsarbeiten zur Eroberung des Weltalls durchaus bewiesen, dass sie logisch denken könnten wie Männer, argumentierte er. Und auch aus der noch jungen DDR ließen sich Beispiele anführen, bei denen Frauen gezeigt hätten, dass sie in der Lage seien, logisch zu denken.

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Newsletter "Dresden kompakt" und erhalten Sie alle Nachrichten aus der Stadt jeden Abend direkt in Ihr Postfach. 

Mehr Nachrichten aus Dresden lesen Sie hier.