Entscheidend sind die Fenster. Im neuen Gebäude für die sogenannte P1-Anlage im Pirnaer Werk des Chemie-Unternehmens Schill & Seilacher funktionieren sie wie Überdruckventile. Sollte es im Gebäude zu einer Explosion kommen, stößt die Druckwelle die Fenster auf. Stahlseile und Netze in den Maueröffnungen sorgen gleichzeitig dafür, dass zwar der Druck nach außen entweichen kann, Trümmerteile aber zurückgehalten werden.
Über die Möglichkeit einer solchen Havarie spricht kein Unternehmen gern. Schill & Seilacher allerdings hat den Ernstfall erlebt und setzt nun viel daran, dass so etwas nie wieder passiert. Am 1. Dezember 2014 gab es in der Chemikalien-Mischanlage P1 im Pirnaer Werk bei der Probe-Produktion eines neuen Flammschutzmittels eine heftige Explosion. Dabei starb der Entwicklungsleiter der Firma, vier Arbeiter wurden teils schwer verletzt, Trümmerteile der Anlage flogen bis in umliegende Wohngrundstücke. Die Behörden legten den Betrieb daraufhin still.
Schrittweiser Neuanfang
Viereinhalb Jahre und unzählige Gutachten später ist das Pirnaer Chemiewerk schrittweise wieder am Netz. Als Letzte soll in diesem Jahr die P1-Anlage, technisch komplett modernisiert, ihre Arbeit wieder aufnehmen. Aufgrund der hohen Genehmigungshürden und des jahrelangen Verfahrens hatte Schill & Seilacher zwischenzeitlich erwogen, seinen Standort Pirna aufzugeben. Denn die P1 ist nach Aussage der Werkleitung die größte und wirtschaftlich wichtigste Misch- und Reaktionsanlage hier, ohne sie arbeite das Pirnaer Werk defizitär, heißt es.
In insgesamt fünf Reaktor-Kesseln wird in der P1 ein Teil der Produktpalette von Schill & Seilacher produziert. Spezialchemikalien vor allem, die in Industrieprozessen eingesetzt werden – zum Stabilisieren von Schaumstoff bei der Matratzen-Herstellung, zum Imprägnieren von Textilien, zum Bearbeiten von Leder, Zusätze für Kosmetika, Flammschutzmittel. Die Palette des Unternehmens umfasst rund 500 Produkte, eine Forschungsabteilung in Pirna brütet ständig über Neuentwicklungen.
Im Inneren des P1-Gebäudes arbeiten Handwerker an einem Gewirr von Leitungen, Rohren und Kabeln zwischen fünf großen, dickwandigen Metallkesseln. Es sind fast ausschließlich Firmen aus der Region, die den Wiederaufbau stemmen. „Wir sind im Endspurt“, sagt Baubetreuer und Projektleiter Ivar Pommerening. Der Dresdner Ingenieur überwacht den Bau der Anlage gemeinsam mit Schill & Seilacher-Betriebstechniker Sebastian Hillert. Die fünf Mischkessel der Anlage sollen in den kommenden Monaten schrittweise in Betrieb gehen. „Der Inbetriebnahme-Plan steht“, sagt Pommerening. Voraussichtlich ab Juni werde es Tests mit dem Behälter C4 geben, der als Erster arbeitsbereit sein soll, nach und nach folgen die anderen.
Engagement im Ort
Zuvor stehen TÜV-Abnahmen an. Ein vom Pirnaer Landratsamt bestellter Hauptgutachter überwacht den Bau und die Inbetriebnahme der Anlage, zudem seien sechs weitere Fachgutachter eingebunden, erklärt Ivar Pommerening. „Das sind Spezialisten mit bundesweiter Expertise.“ Schill & Seilacher werde sein Versprechen gegenüber den Anwohnern einhalten, einen Sicherheitsstandard zu etablieren, der die strengen gesetzlichen Anforderungen übererfüllt.
Rund sechs Millionen Euro investiert die Chemiefirma nach eigenen Angaben in den Wiederaufbau der P1-Anlage. Um die unmittelbaren Anwohner von Geräuschen zu entlasten, ist im rückwärtigen Teil des Betriebsgeländes eine bis zu sieben Meter hohe Lärmschutzwand gebaut worden, eine verbesserte Abluftreinigung soll Gerüche minimieren.
Das Verhältnis zwischen dem Unternehmen und einem Teil der Anwohner ist nach wie vor von Skepsis geprägt. Nach dem Unfall hatten die Neundorfer Schill & Seilacher aufgefordert, für mehr Sicherheit zu sorgen und offener zu kommunizieren.
Bei mittlerweile mehreren Gesprächsrunden wurde zudem der Wunsch geäußert, die größte Firma am Ort möge sich doch auch ein wenig ins Neundorfer Ortsleben einbringen. Auch da geht Schill & Seilacher inzwischen erste Schritte und verschönert den Ort mit Bänken. Zwei Parkbänke sind im April an der Grundschule aufgestellt worden, vier weitere sollen demnächst folgen.
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