SZ + Bautzen
Merken

„Ich habe Angst davor, zur Schule zu gehen“

Ein Mädchen aus Bautzen erzählt, wie es von seinen Mitschülern gemobbt wird. Die Mutter will helfen – stößt aber an ihre Grenzen.

Von Marleen Hollenbach
 6 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Weil sie in der Schule geärgert wird, traut sich Anna kaum noch dahin. „Ich weiß ja nicht, was mich dort erwartet“, sagt die junge Bautzenerin. Sie ist kein Einzelfall. Das Thema spielt im Kreis Bautzen eine große Rolle, erklärt eine Sozialpädagogin.
Weil sie in der Schule geärgert wird, traut sich Anna kaum noch dahin. „Ich weiß ja nicht, was mich dort erwartet“, sagt die junge Bautzenerin. Sie ist kein Einzelfall. Das Thema spielt im Kreis Bautzen eine große Rolle, erklärt eine Sozialpädagogin. © SZ/Uwe Soeder

Bautzen. Es beginnt am Anfang der sechsten Klasse. Anna geht auf die Mädchentoilette. Dort warten schon ein paar Schülerinnen auf sie. „Sie haben die Klotür aufgerissen, als ich nackt dahinter war“, erzählt die heute 15-Jährige. Bei diesem einen Vorfall bleibt es nicht. Einmal nehmen die Mitschüler ihr die Trinkflasche weg, einmal schmieren sie ihr grünes Zeug ins Haar. „Und wenn ich über den Gang laufe, sagen die Mädchen, dass ich stinke. Und dann lachen sie sich darüber aus“, erzählt sie.

Anna hat eigentlich einen anderen Namen, aber der soll lieber nicht in der Zeitung stehen. Sie ist ein schlankes, groß gewachsenen Mädchen, hat braune glatte Haare. Mit leiser Stimme berichtet sie von ihrem schwierigen Alltag an einer Bautzener Schule. Neulich erst, als sie erkältet zu Hause bleiben musste, da habe sie in einem Klassenchat ihre Mitschüler gefragt, welche Hausaufgaben es gibt. „Es war wie immer“, sagt Anna. „Entweder es antwortet mir keiner, oder sie schreiben, ich soll in die Schule kommen, dann weiß ich es.“

Ob es die Mitschüler auf sie abgesehen haben? „Ja“, sagt das Mädchen kurz und knapp. Und was war bisher der schlimmste Tag in der Schule? Anna zögert einen Moment, bevor sie antwortet. „Ich habe eigentlich jeden Tag Angst davor, in die Schule zu gehen, weil ich nicht weiß, was auf mich zukommt“, sagt sie.

Es kehrt keine Ruhe ein

Ihre Mutter hat sich neben ihre Tochter aufs Sofa gesetzt. Sie ist froh, dass sich das Mädchen ihr anvertraut hat. „Am Anfang habe ich noch gedacht, dass das ganz normale Streiche unter Jugendlichen sind“, sagt sie. Doch weil sich ein solcher Vorfall an den nächsten reihte, weil bis heute keine Ruhe eingekehrt ist, kennt die Mutter dafür nur noch ein Wort: „Mobbing.“

Um ihrer Tochter zu helfen, hat sich Annas Mutter nicht nur einmal an die Schule gewandt. Sie berichtet von etlichen Gesprächen mit den Lehrern der Tochter, mit dem Schuldirektor. „Aber man nimmt mich und das Problem überhaupt nicht ernst. Die Schule sagt einfach, es gibt keinen Mobbing-Fall. Mehr kommt da nicht“, erklärt sie. Dabei sei Anna eigentlich darauf angewiesen, dass zumindest die Lehrer Rücksicht auf sie nehmen.

Denn Anna hat schon Schlimmes erlebt. Bei einem Verkehrsunfall vor fast zehn Jahren wird das Mädchen so schwer verletzt, dass es reanimiert werden muss. Sie erholt sich davon, hat aber seither eine Hirnleistungsschwäche, erklärt die Mutter. Diesen Defekt sieht man dem Mädchen nicht an. Doch seit dem Unfall falle ihr das Lernen schwerer. „Nach der Schule gehen wir den Stoff zusammen noch einmal durch, damit sie nicht den Anschluss verpasst“, erklärt Annas Mutter. Sie würde sich wünschen, dass die Lehrer ihrer Tochter etwas mehr Zeit im Unterricht geben, dass sie ein bisschen einfühlsamer sind. Und, dass sie mit den Mitschülern auch über Annas Krankheit sprechen – damit das Mobben irgendwann aufhört.

Schwerpunkt 6. und 7. Klasse

Für die Sozialpädagogin Ines Pröhl ist das Mädchen aus Bautzen kein Einzelfall. Pröhl arbeitet beim Netzwerk für Kinder- und Jugendarbeit. Im Auftrag des Jugendamtes bietet sie im Team Mobiler Jugendschutz an Schulen im Kreis Bautzen Projekte und Vorträge an, bei denen es auch um das Thema Mobbing geht. „In diesem Bereich gibt es momentan einen sehr hohen Bedarf“, sagt sie. Vor allem in der fünften und sechsten Klasse kommt es immer wieder zu Konflikten. Die Kinder wechseln die Schule. Plötzlich sind sie mit höheren Anforderungen konfrontiert, treffen auf andere Lehrer und müssen sich gleichzeitig in ihre neuen Klasse zurechtfinden. „Das ist wie in einer Familie. Jeder bringt etwas Gutes mit und trotzdem können ab und zu Konflikte eskalieren“, erklärt Ines Pröhl.

Zwar könne man nicht jeden Konflikt gleich als Mobbing bezeichnen. Wenn sich aber die Vorfälle häufen, wenn jemand systematisch fertiggemacht wird, dann entsteht ein Klima, das für die betroffene Person unerträglich ist. Anna aus Bautzen hat sich ihrer Mutter anvertraut. Doch längst nicht alle Schüler sprechen über ihre Probleme, erklärt Ines Pröhl und nennt die Warnsignale, auf die Eltern achten sollten. Wenn das Kind zum Beispiel über Bauchschmerzen klagt und nicht zur Schule gehen will, wenn ständig das Sportzeug fehlt, wenn sich das Kind immer mehr zurückzieht, die Noten schlechter werden, dann sollten sich die Eltern Sorgen machen. Wichtig sei es vor allem, dass die Erwachsenen in einem solchen Fall hinter ihrem Kind stehen, statt ihm nur zu sagen, es solle sich einfach zusammenreißen.

Missbrauch von Klassenchats

Ines Pröhl hat auch eine Antwort auf die Frage, warum Mobbing in Schulen gerade jetzt ein so großes Problem ist. Das liege zum einen an den technischen Möglichkeiten, sagt sie. In den Klassenchats auf den Smartphones oder in den sozialen Medien geht das Mobbing auch dann weiter, wenn der Schüler schon zu Hause ist. Das ist auch bei Anna so. Als sie krank war, schrieb ein Junge in den Klassenchat, er wette einen Zehner darauf, dass sie am nächsten Tag nicht in die Schule kommt. Dass Kinder in Chats vorgeführt werden, hat auch Ines Pröhl schon gehört. „Wir reden deshalb mit Eltern, Lehrern und Schülern darüber, wofür der Chat genutzt werden kann und wie man damit umgeht“, sagt sie.

Die Sozialpädagogin sieht aber noch einen weiteren Faktor. Die schwierige personelle Situation sorge dafür, dass immer weniger mit den Schülern über das Miteinander gesprochen wird. Zu Beginn der fünften Klasse werde zwar oft eine Kennenlernwoche veranstaltet. Doch danach spiele das Thema Klassenklima häufig kaum noch eine Rolle im Unterricht. „Es ist aber auch Auftrag der Schule, Lebenskompetenzen zu vermitteln. Genau dabei wollen wir die Schulen unterstützen“, sagt Ines Pröhl.

Annas Mutter denkt inzwischen sogar über einen Schulwechsel nach. „Aber dann müsste sich meine Tochter wieder an neue Schüler, neue Namen, einen neuen Schulweg gewöhnen. Das würde sie überfordern“, sagt Annas Mutter. Noch hofft sie, dass die Lehrer ihr doch noch helfen, das sie gemeinsam mit der Klasse das Problem in den Griff bekommen. Eines Tages soll Anna wieder gern zur Schule gehen.

Mehr Nachrichten aus Bautzen lesen Sie hier.

Mehr Nachrichten aus Bischofswerda lesen Sie hier. 

Mehr Nachrichten aus Kamenz lesen Sie hier.