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„Ja, ich hatte Angst“

Andreas Günzel aus Struppen blickt auf seine Zeit als Pfarrer in der DDR zurück. Die Opferrolle liegt ihm nicht.

Von Mareike Huisinga
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Pfarrer Andreas Günzel vor der Kirche in Struppen.
Pfarrer Andreas Günzel vor der Kirche in Struppen. © Norbert Millauer

Anpassung? Für Pfarrer Andreas Günzel aus Struppen schwierig. Der Theologe trägt sein Haar hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und fährt gerne auf einem Motorrad zu seinen Gemeindemitgliedern. Besonders gut erreichte er so während der Hochwasser 2002 und 2013 die Menschen, die Hilfe brauchten, die sich nach Zuspruch sehnten und seelsorgerische Betreuung benötigten.

Für den Beruf des Pfarrers hat er sich ganz bewusst entschieden. In der DDR kein leichter Entschluss und mit manchen Entbehrungen verbunden. „Aber ich sehe mich nicht als Opfer. Im Gegenteil, mir ist durch meine Entscheidung viel Gutes widerfahren“, sagt der 60-jährige Theologe.

Eine Entscheidung, die auch stark durch sein Elternhaus geprägt wurde. Andreas Günzel wächst als Sohn eines Pfarrers in Schellerhau auf. Schon als Kind erlebt und genießt er die offene Atmosphäre, die in seinem Elternhaus herrscht. „Es wurden immer viele Gespräche geführt, oft kontrovers“, erinnert sich Günzel. Schon früh steht für ihn fest, weder wird er das blaue Halstuch als Jungpionier, noch das rote Halstuch als Thälmannpionier tragen. Auch kommt für ihn später das Blauhemd nicht infrage. „Der Anspruch der DDR, dass nur die eine offizielle Ideologie gelten darf, konnte ich nicht akzeptieren oder annehmen. Es gab die Losung: ,Der Kommunismus ist allmächtig, weil er wahr ist.‘ Für mich ist der Kommunismus weder allmächtig noch wahr“, sagt der Pfarrer.

Die Tatsache, dass Mangelwirtschaft in der DDR herrscht, bemerkt Andreas Günzel in seiner Kindheit und Jugendzeit natürlich auch. „Aber das war nicht das Schlimmste für mich. Das Schlimmste war, dass der Staat mir vorschreiben wollte, was ich denke und wohin ich reisen darf beziehungsweise wohin nicht.“ Andreas Günzel lässt sich nicht in vorgegebene Denkmuster hineinpressen. „Ich wollte immer frei sein im Denken und im Handeln.“

Trotz seiner Ablehnung gegen die staatlichen Jugendorganisationen wird er nicht gemobbt. Er hat Glück, nämlich gute Freunde in seinem Dorf, die zu ihm halten, Sie denken ähnlich. Man trifft sich in der Jungen Gemeinde.

Klar ist natürlich, dass Andreas Günzel mit seiner Haltung nicht auf die Erweiterte Oberschule gehen darf, obwohl seine Noten das durchaus hergeben.

Aber dieser erzwungene Verzicht ist für ihn kein Nachteil. „Denn ich wollte gerne Handwerker lernen.“ In Geising bei einem Handwerksmeister nimmt er seine Lehre zum Drechsler auf. Ein Zwei-Mann-Betrieb. Die Arbeit mit Holz gefällt ihm. Vorgesehen ist, dass während der Lehrzeit eine vormilitärische Ausbildung absolviert werden muss. Allerdings weigert sich Andreas Günzel in diesen 14 Tagen, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Er wird in den Innendienst versetzt und muss dabei auch Latrinen schrubben. „Während die anderen draußen mit Vollgesichtsgasmaske den Atomschlag übten, durfte ich in der Küche Kartoffeln schälen. Das war natürlich wesentlich besser“, sagt der Pfarrer und muss bei dieser Erinnerung lächeln.

Den Dienst in der Nationalen Volksarmee verweigert Andreas Günzel komplett, auch Bausoldat ist für ihn kein Kompromiss. Folglich stellt sich für ihn nach Abschluss seiner Lehre 1978 die Frage: Wie geht es jetzt weiter? Da der Meister gestorben ist, kann Andreas Günzel in dessen Werkstatt nicht weiterarbeiten. Eine Anstellung in einem volkseigenen Betrieb? Kommt für ihn als Freidenker nicht infrage. Wieder hat er Glück.

In Leipzig kann er an der Karl-Marx-Universität eine sogenannte Sonderreifeprüfung, machen. Es ist seine Eintrittskarte für das anschließende Theologie-Studium an derselben Universität.

Für Andreas Günzel eröffnet sich eine neue Welt. „Leipzig als Messestadt war relativ offen. Ich kam mit vielen Menschen zusammen und konnte auch Kontakte in den Westen knüpfen.“ Er genießt nicht nur die Gesellschaft mit gleichgesinnten Kommilitonen, sondern auch die Nutzung der Deutschen Bücherei in Leipzig. „Für meine Diplom-Arbeit hatte ich eine Extragenehmigung und konnte somit auch Ausgaben des Spiegels lesen.“

Nach dem Abschluss seines Studiums 1986 überlegt Günzel, ob er in den Westen „rübermacht“. „Diese Option war für mich durchaus interessant, da ich Freunde in den alten Bundesländern hatte“, berichtet er. Aber dann kommt er mit dem damaligen Landesbischof von Sachsen zusammen, der auch ein Freund seiner Eltern ist. Die Worte des Bischofs wird Andreas Günzel nicht vergessen. „Er sagt mir: Wir brauchen solche Leute wie dich als Pfarrer in der DDR.“ Andreas Günzel bleibt, wird als Pfarrvikar nach Struppen abgeordnet und 1986 hier ordiniert. Als Pfarrer kann er mitgestalten und nutzt seine Chance. „Die Kirche bot Schutzräume, in denen man offen diskutieren konnte. So auch in Struppen. Es war die Zeit, als sich die Umweltbewegung und die Friedensbewegung in der DDR entwickelte. Unter dem Dach der Kirche konnte die Teilnehmer frei reden.“

Dann, im Sommer 1989, wird es leerer in dem Dorf Struppen. Einige Bewohner fliehen über Ungarn in den Westen. Andere bleiben, sie wollen vor Ort etwas verändern. So auch Pfarrer Günzel, der an einem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche teilnimmt und später an mehreren Demonstrationen in Dresden. Der politische Herbst ist heiß. „Ja, ich hatte Angst, als wir den Bewaffneten gegenüberstanden“, sagt der Pfarrer ganz offen. Aber schließlich werden es immer mehr Demonstranten, die rufen: „Keine Gewalt.“ Günzel hält einen Moment im Erzählen inne. „Und als wir in großen Massen mit Kerzen aus der Kreuzkirche herauskamen, war mir klar, jetzt passiert nichts mehr. Der Staat kann nicht auf die Menge schießen!“, sagt er.

Die Saat der friedlichen Revolution geht auf. Das Ende der DDR kommt. „Es war eine Art der Befreiung aus der Enge“, sagt Günzel heute rückblickend, der die ersten demokratischen Wahlen in Struppen als Wahlleiter begleitet. 30 Jahre hat er in der DDR gelebt. „Natürlich waren wir als Pfarrer und Menschen der Kirche ein klares Feindbild. Es gehörte viel Mut dazu, sich zur Kirche zu bekennen. Aber es war auch eine große innere Freiheit. Ich persönlich sehe mein Wirken in der DDR durch die friedliche Revolution bestätigt.“

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